Hamburg. Autorin Henriette Kuhrt hat mit Sarah Paulsen den Knigge fürs 21. Jahrhundert geschrieben, „Im Dschungel des menschlichen Miteinanders“.

Knigge war gestern. Ansichten und Einstellungen, was gutes Benehmen bedeutet, haben sich im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten gewandelt. Heute, im digitalen Zeitalter, erfordere korrektes Verhalten keine auswendig gelernten Benimmregeln, sondern Verständnis für Menschen und Zeitgeschehen, meinen Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen. Sie haben den „Knigge für das 21. Jahrhundert“ geschrieben, so der Untertitel ihres Buchs „Im Dschungel des menschlichen Miteinanders“.

Die Schriftstellerin und Journalistin Henriette Kuhrt hatte 2011 ihren Roman „Männer in Serie“ (Rowohlt Verlag) veröffentlicht, arbeitet heute als Kolumnistin für die „Neue Zürcher Zeitung am Sonntag“. Die gebürtige Hamburgerin lebt seit mehr als 20 Jahren in München, vermisst aber „jeden Tag den Geruch der Elbe“. Immerhin kann sie inzwischen „zwei Münchner Kindl und mehrere Dirndl vorweisen“ – und sei so „ganz gut integriert“ in der bayerischen Metropole.

Sie und Sarah Paulsen schreiben im Buch: „Noch nie wurden Minderheiten so viel Respekt entgegengebracht wie heute.“ Die Hasstiraden im Netz, die Shitstorms und manche politische Debatten sprechen eine andere Sprache!?

Henriette Kuhrt: Wenn jemand aus der Generation unserer Eltern gesagt hätte, dass er nicht mit dem Schwulen im Sportverein duschen möchte, hätte niemand etwas gesagt, heute ist das zum Glück anders. Homosexuellen-, trans und Frauenrechte sind selbst für konservative Parteien ein Thema. Gleichzeitig gibt es eine Radikalisierung der politischen Ränder, die bis in die Mitte hineinwirkt; diese Stimmen werden vor allem Netz immer lauter und aggressiver.

Was sind die Ursachen für derlei Ausfälle?

Wir sollten lieber darüber nachdenken, was mit denen passiert, die es trifft, sie beschützen und stärken. Sie brauchen unsere Gedanken und Beistand mehr als die, die sich danebenbenehmen.

Im Kapitel zu Rassismus, Sexismus und Geschlechter stellen Sie zehn Gebote des Mitein­anders auf. Die Vokabel-Auszüge reichen über sechs Seiten von A wie Asexualität bis „Schwarze Menschen“. Da kann nicht jeder folgen – ein Generationenproblem?

Generationen hatte schon immer ihr eigenes Vokabular. Aber wenn ein paar Leser mehr verstehen, was Begriffe wie „cis“ oder „trans“ bedeuten, dann haben wir mit dem Buch viel erreicht. Unsere Botschaft: Niemand muss gendern, aber jeder sollte wissen, warum andere es tun. Wir gendern in unserem Buch übrigens fast gar nicht, wie es unsere Generation eben gewöhnt ist.

Das Gender-Sternchen sei auch ein Statement, schreiben Sie. Warum das?

Neuerdings kann man sich qua Grammatik politisch positionieren: Wer gendert, ist ziemlich sicher ein Feminist und jemand, dem Gerechtigkeit wichtig ist. Als Autorin bin ich begeistert, dass etwas so Beiläufiges, eher Langweiliges wie Grammatik plötzlich zum Statement wird.

Ihr Buch entstand auch während der Corona-Krise. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass sich daraus ein besseres menschliches Miteinander entwickelt?

Die letzten 50 Jahre hat jeder Deutsche seine Krisen individuell durchlaufen: Scheidung, Krankheit, Verlust. Nun müssen wir Corona im Kollektiv bewältigen, und es hat sich gezeigt, dass unser Solidaritätsmuskel ziemlich untrainiert ist. Wäre ja schön, wenn uns als Gesellschaft in Erinnerung bleibt, wie zerbrechlich so ein geregelter Alltag sein kann. Und wir anderen Menschen Krisen mit mehr Großzügigkeit begegnen.

„Im Dschungel des menschlichen Mit­einanders“/Ein Knigge für das 21. Jahrhundert 256 Seiten., auch als E-Book, Goldmann-Verlag, Preis: 18 Euro.