Hamburg/Schleswig. Die Museumsinsel von Schloss Gottorf zeigt drei sehr sehenswerte Ausstellungen, die stärkste ist Christopher Lehmpfuhls „Farbrausch“.
Orkanböen peitschen an die Lange Anna und ins Gesicht des Malers, der seine Staffelei an Helgolands nördlichster Küste aufgestellt hat und dort unbeirrt von den Naturgewalten mit den Händen Farbe auf die Leinwand trägt und modelliert. Bis die Lummenfelsen deutlich zu erkennen sind, der von Kopf bis Fuß ölverschmierte Künstler Pinsel, Töpfe und Leinwand einpackt und mit einer Sackkarre abtransportiert. Ihm zuzusehen gleicht einem Happening.
„Ich will die Eindrücke mit allen Sinnen aufnehmen und auf die Leinwand bringen. Ich bin im Rausch, wenn ich in der Landschaft arbeite“, sagt Christopher Lehmpfuhl, Jahrgang 1972, einer der wenigen gegenwärtigen Freiluftmaler, Berliner und zugleich „Norddeutscher Realist“. Folgerichtig heißt die große Retrospektive, die aktuell in der Reithalle von Schloss Gottorf die besten Arbeiten aus 25 Schaffensjahren zeigt, auch „Farbrausch“.
Raus, bloß raus! Lehmpfuhls Arbeitscredo dürfte so manchem aus der Seele sprechen. Zu Beginn der Hamburger Maiferien ist die Sehnsucht nach Tapetenwechsel, nach Inspiration und Erholung groß. Die Schleswiger Museumsinsel macht’s möglich: Sie bietet Kunstgenuss und eine herrliche Kulisse zum Spazieren (siehe Kasten).
Perfekt, um auf heitere Gedanken zu kommen
Für Carsten Fleischhauer, Direktor des Museums Kunst und Kultur auf Schloss Gottorf, kommt die Ausstellung genau zur richtigen Zeit: „Der Maler feiert die Schönheit der Welt und des Lebens. Seine Kunst ist präsent und kraftvoll und perfekt dazu geeignet, um uns in diesem Sommer auf fröhliche, heitere Gedanken zu bringen.“
160 Werke füllen die Halle, von kleinformatigen Aquarellen bis Litfaßsäulen-Bildern mit 360-Grad-Malerei. Landschaftsextreme auf Island und auf dem höchsten Berg der Alpen („Glockner-Duett“) sind zu sehen, ebenso die monumentalen Schlossplatz- und Neue Mitte-Zyklen, mit denen Christopher Lehmpfuhl die Entwicklung seiner Heimatstadt dokumentierte und dafür große Aufmerksamkeit erhielt.
Immer wieder Berge und Meer; das ist es, was den Künstler fasziniert. Besonders die Küsten Schleswig-Holsteins und die Nord- und Ostseeinseln haben es ihm angetan. Daneben sind stille Werke zu entdecken. So verarbeitete Lehmpfuhl den Tod seiner Eltern im Jahr 2018, indem er seine Kindheit in Berlin szenisch in eine Schwarz-Weiß-Serie fasste.
Mit acht privaten Zeichenunterricht bekommen
Es gehört zu einer Rückschau, dass auch frühe Arbeiten ausgestellt werden. Dass ihr Sohn ein besonderes Talent hat, fiel den Eltern auf, als Christopher Lehmpfuhl die Reproduktionen von großen Impressionisten detailgetreu nachmalte. Mit acht Jahren erhielt er privaten Zeichenunterricht. Sein Weg führte ihn schließlich an die Berliner Hochschule der Künste, wo er Meisterschüler bei Klaus Fußmann wurde. Dort habe er ganz ordentlich gelernt, mit dem Pinsel zu malen, so Lehmpfuhl. Heute benötigt er dieses eigentlich unabdingbare Utensil nicht mehr.
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Den Schlüsselmoment für seine ganz eigene Technik erlebte Lehmpfuhl, als auf einem regennassen Bild die Farbe verlief. Er sei schlichtweg zu faul gewesen, um einen Pinsel aus dem Auto zu holen, erzählt der Künstler. Also habe er einfach seine behandschuhte Hand genommen und gemerkt: „Mensch, das geht ja auch. Das ist ja eigentlich sogar viel besser. Denn der Abstand, den man durch einen Pinsel zur Leinwand hat, ist verkürzt. Man ist direkt auf der Leinwand und damit direkt an der Malerei.“
Da Ölfarbe sich der Außentemperatur anpasse, sei es im Winter „wie mit Eiscreme zu malen. Im Sommer verbrennt man sich fast die Finger“. Der dadurch entstehende extrem pastose Farbauftrag, die wellenartige Dynamik seiner Landschaften und die besondere Lichtsituation erinnern oft an den Stil Vincent van Goghs; der Plein-air-Maler begab sich ebenfalls mit allen Sinnen in die Natur, um ihre Kraft und Mystik zu erspüren. Doch Christopher Lehmpfuhl betont trotz seiner frühen kindlichen Prägung im Elternhaus, dass er keine Kunst nachahmen, sondern ganz bewusst eine „zeitgemäße Form des Impressionismus“ schaffen wolle.
Deutscher Impressionismus und Ernst Barlach
Wie sich frühere deutsche Künstler von französischen Vorbildern inspirieren ließen oder auch davon emanzipierten, zeigt die Sonderausstellung „Moderne und Idyll. Impressionismus in Deutschland“ im Kreuzstall des Schlosses. Max Liebermann, Lovis Corinth, Hans Olde, Walter Leistikov, Christian Rohlfs, Max Slevogt und Lesser Ury sind hier mit herausragenden Werken vereint. Sie treten in einen Dialog mit Maria Slavona und Gotthard Kühl, den Hamburgern Thomas Herbst und Ernst Eitner sowie mit den Spät- beziehungsweise Postimpressionisten Emil Nolde, Wenzel Hablik und Arthur Illies.
In einer Kabinettausstellung im Kreuzstall wird Ernst Barlach, „der Einzelgänger unter den Expressionisten“ gewürdigt – posthum zu seinem 150. Geburtstag, der im vergangenen Jahr groß gefeiert wurde. 40 Zeichnungen, Druckgrafiken und Plastiken aus allen Werkphasen machen den bedeutenden und streitbaren Bildhauer erfahrbar.
Wer nun gleich hochmotiviert den Beginn der Ferienwoche in Schleswig plant, hier zwei sachdienliche Hinweise: Am Montag ist die Museumsinsel komplett geschlossen. Für die „Farbrausch“-Ausstellung müssen Besucher vorab ein Zeitfenster-Ticket buchen. Und für diejenigen, die nicht ins benachbarte Bundesland reisen wollen oder können, gibt es noch bis zum 11. Juni „Urbane Perspektiven“, eine kleine, feine Aquarell-Ausstellung von Christopher Lehmpfuhl bei Felix Jud am Neuen Wall.
„Farbrausch“ bis 17.10., „Moderne und Idyll“ sowie „Ernst Barlach“ bis 31.10. Schloss Gottorf, Schloßinsel 1, 24837 Schleswig, T. 04621/81 32 22, geöffnet Di-Fr 10.00-17.00, Sa/So 10.00-18.00, Eintritt für alle Museen der Insel 10,-/8,- (erm.), www.schloss-gottorf.de