Hamburg. Der NDR Chor sang zum Auftakt in der Elbphilharmonie. Bei aller Akkuratesse lag ein Hauch von Anstrengung über dem Abend.

Chorgesang hat viele Gesichter. Unvergessen ein Hamburger Auftritt des belgischen Huelgas Ensem­ble: Die Sänger stellten sich im Kreis auf, eng beieinander, mit dem Rücken zum Publikum wie eine American-Football-Mannschaft. Und ließen aus einer rätselhaften Tiefe ihre perfekt verschmolzenen Renaissance-Klänge aufsteigen. Es war der klingende Sieg der Transzendenz über die Banalität des modernen Individualismus.

Das ist lange her, gefühlte Zeitalter. Wer im Jahre 2021 mit so einer Aufstellung an den Start ginge, hätte vermutlich noch vor dem ersten Ton die Gesundheitsbehörde am Hals. Der NDR Chor und sein früherer Chefdirigent Philipp Ahmann haben sich für sein Programm „Strawinsky in memoriam“ zum 50. Todestag des Komponisten den Widrigkeiten der Jetztzeit geradezu heroisch gestellt. Natürlich fand das Konzert ohne Live-Publikum statt. Es war einer von drei Livestreams, die vom abgesagten Festival „Strawinsky in Hamburg“ geblieben waren.

Ohne Publikum klingt der Große Saal um einiges halliger

Beim Anblick der Menschlein, die sich wie hingestreut auf der Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie verloren, konnten einem die Tränen kommen. An die Abstände zwischen Orchestermusikern hat sich das Auge schon fast gewöhnt. Aber Sänger müssen deutlich weiter auseinanderstehen, obwohl sie doch noch dringender als Instrumentalisten auf die körperliche Resonanz, auf das gemeinsame Schwingen angewiesen sind.

Einen Gesamtklang zu erzeugen, ist in der Elbphilharmonie bekanntlich anspruchsvoll. Ohne Publikum klingt der Saal um einiges halliger, das mag den Sängern entgegengekommen sein. Doch lag bei aller Akkuratesse in der Ausführung ein Hauch von Anstrengung über dem Abend. Anstrengung für die Sänger, die räumliche Trennung klanglich aufzuheben. Und Anstrengung für die Hörer.

Strawinsky-Gesängen fehlte es an Gewichtung der Stimmen

Das Programm verschränkte geistliche Gesänge von Strawinsky mit Motetten und Responsorien von Monteverdi und Gesualdo – jener Musik am Übergang von der Renaissance zum Barock, die den Nachgeborenen inspiriert und hörbar beeinflusst hatte. Gute Idee eigentlich, aber ohne die natürliche Dreidimensionalität des Klanges und ohne die Aura eines Kirchenraums wirkte das Ganze über die Dauer leicht monoton. Der mitunter indiskrete Blick der Kamera in die Gesichter verstärkte noch den Eindruck der Vereinzelung.

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Bewundernswert souverän verhalfen die Künstler der Alten Musik zu Leben und Gestalt, unbeeindruckt von den Klippen der eigenwilligen Harmonik eines Gesualdo. Leichthändig und mit klarer Diktion bewegten sie sich in den wechselnden Rhythmen, kundig begleitet von der Organistin Dagmar Lübking und dem Cellisten Christoph Harer, dessen Ton an die milde Bronze einer Barockposaune erinnerte. Dagegen fehlte es den Strawinsky-Gesängen gelegentlich an einer Gewichtung der Stimmen, sodass das Ohr Mühe hatte, sich in dem Klanggewebe zu orientieren, und erst recht, zu verfolgen, wie viel Strawinsky und wie viel Gesualdo etwa in der Bearbeitung „Tres sacrae cantiones für Chor a cappella“ steckte.

In den Pausen gibt es historische Strawinsky-Fotos

Schade übrigens, dass der Livestream sich nicht darauf beschränkte, einfach das Bühnengeschehen zu zeigen. Änderungen der Aufstellung zu sehen, kann dem Verständnis solch polyfon verschlungener Musik durchaus aufhelfen. Stattdessen untermalten die immergleichen historischen Fotos von Strawinsky die Umbaupausen. Zugegeben, auf einigen Bildern war zu erkennen, dass sie bei Orchesterproben in der Laeiszhalle und im Liebermann-Studio entstanden waren.

Aber die Wiederholung war schlicht ideenlos, und minutenlang auf die Saalwand mit der in Arte-Orange unterlegten Projektion „Strawinsky in Hamburg“ zu halten, auch nicht besser. Da konnte sich der geneigte Hörer beim digitalen Blättern im Programmheft schon fragen, warum das Konzert, wenn die Gesualdo-Gesänge schon aus dessen „Matutin des Karsamstag“ stammten, drei Tage nach ebendiesem stattfinden musste. Todestag des Komponisten hin oder her.

Tröstliches „Alleluja“ in der Hamburger Elbphilharmonie

Fahrt nahm der Abend bei der „Psalmensinfonie“ auf, die Strawinskys Kollege Dmitri Schostakowitsch in eine – was er damals nicht ahnen konnte – pandemie­taugliche Fassung für Klavier vierhändig und Chor umgearbeitet hatte. Die Tastatur teilten sich Mariana Popova und Burkhard Kehring, miteinander verheiratet und daher aller Abstandsgebote enthoben. In intensivem Dialog mit dem Chor spürten sie Strawinskys vielgestaltiger Tonsprache in alle Nuancen hinein nach, von im Stil der klassischen Moderne kompromisslos entschlackten, endzeitlich wirkenden Gedanken über virtuos hämmernde Rhythmen bis hin zum entrückten, tröstlich leuchtenden „Alleluja“.

Und so stellte sie sich doch noch ein, die Transzendenz. Redlich erarbeitet.

Der Stream: abrufbar unter www.NDR.de/strawinskyfestival