Hamburg. Der Schriftsteller Simon Urban legt einen fulminanten Schelmenroman vor. Der Held des Buchs ist ein zeitlos schauriger Schurke.

Im Finale dieses teuflischen Stücks voller Selbstüberhöhung und Wahn liest der Protagonist, der erst ganz spät einen Namen bekommt, ein paar Zeilen über sich, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Sandra schreibt ihm aus dem Gefängnis. Sie hat ihren Großonkel, einen ehemaligen SS-Mann, umgebracht. Mit dem Helden und Briefadressaten war sie vorher in ein intellektuelles, mörderisches Verhältnis verstrickt, das auf ihrer Seite auch ein gerüttelt Maß an Selbsthass offenbarte.

Sie schreibt ihm also. Um ihm „die Augen darüber zu öffnen, wer du bist: jemand, der den Kern wahrer MENSCHLICHKEIT niemals erreichen wird“. Sie habe noch nie einen „derart isolierten, gefühlskalten, REDUZIERTEN, fokussierten Menschen kennengelernt“. Vernichtend. Man hat es also mit einem Menschen von der dunklen Seite zu tun. Noch dazu einem, der zur Macht strebt. Und dem soll man nun als Leser über mehr als 500 Seiten folgen?

Aber ja. Denn der Held in Simon Urbans ungewöhnlichem, unbedingt originellem und schneidig geschriebenem Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“ ist faszinierend in seinem unbestrittenen Größenwahn, seiner kühlen Bosheit und narzisstischen Skrupellosigkeit. Kein Abziehbild des neuesten modernen Menschen, eher ein zeitlos schauriger Schelmschurke, dessen Vergehen tatsächlich in der Ausschaltung aller gängigen Emotionen liegt. Sein Hass hat etwas Befreiendes, keine Frage.

Seine Geringschätzung trifft viele

Mit seinem Ich-Erzähler installiert der 1975 in Hagen geborene und in Hamburg sowie Ostholstein lebende Simon Urban zunächst einmal nachdrücklich den Homo juridicus in die deutsche Gegenwartsliteratur. Die Hauptfigur, aus Stuttgart stammend, besucht in den 1990er-Jahren als hochbegabter Student der Rechtswissenschaft die Freiburger Universität.

Dort pflegt er, als zwischenmenschlicher Quasi-Autist, seinen Außenseiterstatus, gerät aber durch seine von den Professoren und Kommilitonen bewunderte geistige Exzellenz zum ersten Mal in eine Position, von der aus er die Wirklichkeit nach seinen Regeln gestalten kann. Er bringt etwa als Tutor Studierende dazu, ihm und einander ihre abgründigsten Geheimnisse zu verraten.

Zu diesem Zeitpunkt ist er längst als mitleidloser und verächtlicher Weirdo etabliert: Bereits als Teenager führte er einen Indizienprozess im Wohnzimmer gegen die seine Mutter schikanierende Oma. Diese hasst er aufrichtig, wie seine Geringschätzung fast alles und jeden in seiner Umwelt trifft. Mit Ausnahme derer, die seiner zynischen, soziopathischen, bösen Weltsicht folgen.

Irrwege sind manchmal interessanter als der Pfad der Tugend

Der Erzähler will ein neues Rechtssystem schaffen, in dem die Genugtuung von Verbrechensopfern über allem steht. Keine Strafe kann groß genug sein, mildernde Aspekte finden in seiner Art der Rechtgebung keinen Platz. Er ist ein juristischer Hardliner. Todesstrafe und Vendetta inklusive.

Die Weltreise, die er unternimmt, stellt er unter sein Forschungsmotto „Studium der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Theorie und Praxis“. Der Held betrachtet sich als Kämpfer gegen ein Recht, das er nicht als das seine betrachtet.

Dabei erscheint seine Vorstellung, das Leid der Angehörigen müsse in das Strafmaß miteinbezogen werden, von vorneherein kompromittiert. Auch wenn er Gerechtigkeit will: Einem smarten Scheusal wie ihm gesteht man nicht zu, etwas Gutes im Sinn zu haben. Irrwege haben aber die Angewohnheit, manchmal interessanter als der Pfad der Tugend zu sein.

Die Pervertierung des Rechts

Die Ideen des Rechts und ihre mögliche Pervertierung finden in dem Roman ausführlich Platz. Gleiches gilt für des Helden sexueller Einrichtung in der Welt: Vom ungevögelten Pickelbuben wird er zum versierten Liebhaber, der sich bei den Frauen zu bedienen weiß. Der Leser ahnt früh, dass es auf die Frage hinausläuft, ob er am Ende selbst nicht nur Recht sprechen, sondern auch das Urteil vollstrecken soll.

Das ultimative Verbrechen, das uferlos Böse, das ihm nach seiner skandalös beendeten Freiburger Zeit – er führt die neue Star-Professorin am Jura-Lehrstuhl in einem schamlosen öffentlichen Vortrag vor – in Singapur begegnet, entstammt der Sphäre des Geschlechtlichen: Vor seinem Privatgericht steht ein Sex-Angreifer, der Dutzende Frauen mit AIDS angesteckt hat. Düster ist der Roman auf jeder Seite.

Austariert wird die verrottete Szenerie von der immer aufblitzenden Komik, die sich vor allem aus dem Erzählton speist. Da erzählt einer, nie vom Zweifel angekränkelt, kühn und vom hohen Ross des Alles-Checkers. Simon Urbans Romankonstruktion ist erfrischend kompromisslos, der Erzählbogen weit gespannt – wir lesen vom unter anderem auch vom Thunfischfang und asiatischer Kampftechnik. Vor allem aber unternimmt dieser Roman einen rhetorisch in vielen Dialogen ausgeführten Tauchgang in die Welt der Moral und des Rechts.

Das Böse ist nie langweilig

Letzteres kennt der Autor von Hause aus: Seine Eltern waren Richter. Zuletzt wurde Urban mit einem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. Er machte einst eine Ausbildung an der Texterschmiede Hamburg und arbeitete für namhafte Werbeagenturen. Seine erfolgreichste Werbung war eine Familien-Schnulze für Edeka, in der ein alter Mann seinen Tod vortäuscht, um seine Kinder und Enkel endlich wieder alle zusammen zu sehen. Abgründig auf seine Weise ist auch dies.

Mit seinem neuen Roman legt Urban das vielleicht böseste Buch des Jahres vor. Und das Böse ist nie langweilig.