Hamburg. Ein Gespräch über Kunsthochschul-Freiheit und Rebellion, Räume und Künstler-Existenzen – und über Obdachlosigkeit bei Studierenden.

Die Kulturszene hat es in der andauernden Corona-Pandemie durch die damit verbundenen Schließungen von Theatern, Konzerthäusern und Galerien besonders hart getroffen. Aber wie geht es eigentlich dem Nachwuchs, denen also, die erst zur Künstlerin, zum Künstler reifen? Darüber haben wir mit Sabina Dhein, Direktorin der Hamburger Theaterakademie und Vizepräsidentin der Hochschule für Musik und Theater, und mit Martin Köttering, der im vergangenen Mai seine vierte Amtszeit als Präsident der Hochschule für bildende Künste antrat, gesprochen.

Was sind die besonderen Herausforderungen eines Kunst-, Musik- oder Theaterstudiums in der Corona-Krise?

Sabina Dhein Wir haben Jahrgänge, die noch nie vor Publikum gespielt haben. Wir haben Jahrgänge, die noch nie ohne die „Bremse“ der AHA-Regeln im Kopf geprobt haben. Jeder Lockdown hat uns mitten in lange geplanten Projektphasen erwischt. Bei Verschiebungen müssen sich die Regieteams jedes Mal wieder neu finden. Das macht schon was aus. Es macht auch was aus, wenn man vier Jahre mit allem, was dazu gehört, studiert hat, wenn man Nähe und Grenzüberschreitungen erfahren hat – und dann seinen Abschluss vor 20 Leuten und einer Kamera zeigt. Das ist bitter.

Konnten Proben und Ensembleunterricht immer stattfinden?

Dhein Ja, bis auf eine kurze Phase im ersten Lockdown, wo absolut alles zu war. Ich kann inzwischen für jeden Raum hier sagen, wie viele Sängerinnen, wie viele Musiker, wie viele Schauspielerinnen dort jeweils proben dürfen. Wir haben ein hervorragendes Hygienekonzept entwickelt. Es wird also geprobt, auf der Basis der Freiwilligkeit. Ich stelle fest, dass unsere jungen Menschen sehr verantwortungsvoll und respektvoll mit der Pandemie umgehen.

Martin Köttering Die Herausforderungen sind bei uns ähnlich: Ob es ums Musikmachen, Theaterproben oder um die bildende Kunst geht – man braucht vor allem Raum. Ein Atelier. Und man braucht immer die Gruppe, die Kommilitonen. Der Austausch unter den Mitstudierenden ist zumindest in der bildenden Kunst sehr wichtig, einfach zwischendurch auf die Leinwand des anderen schauen und kommentieren. Die HFBK hat nie zugemacht, keinen Tag. Die meisten Ateliers sind um die 100 Quadratmeter groß, da dürfen dann vier Studenten arbeiten, in jede Ecke einer. Die Lehre selbst findet zum Großteil digital statt.

Man stellt sich vielleicht vor, dass jemand, der zum Beispiel Maler werden möchte, zur Not auch zu Hause eine Leinwand aufstellen kann. Dass jemand, der ohnehin viel aus sich heraus schöpft, nicht so unter der Einsamkeit leidet wie etwa Schauspielstudierende. Warum ist das ein Trugschluss?

Köttering Dieses Bild des einsamen Malers im Atelier mag ganz romantisch sein, aber die Realität sieht anders aus. Die wenigsten Studierenden können sich in Hamburg ein Atelier leisten oder ein Zuhause, wo sie wie im Atelier arbeiten können. Dafür braucht man die Hochschule. Im Oktober eröffnen wir unser neues Atelierhaus, der Platzbedarf ist enorm.

Dhein Nicht jeder kann in seiner WG so einfach Posaune üben, es war wichtig, dass die Übe- und Proberäume wieder aufgemacht wurden. Zwischen Musik und Theater muss man trotzdem genau differenzieren: Natürlich kann ich als Musiker sehr viel allein arbeiten, während die Kunst am Theater zwingend aus dem Team heraus entsteht. Ein Team begibt sich für eine Inszenierung auf eine circa sechswöchige Begegnungsreise. Wenn da permanent eine Hälfte in Quarantäne sitzt, sind das unglaublich belastende Phasen. Alle Teammitglieder müssen sich also verantwortungsvoll verhalten, alle müssen sich darauf verlassen, dass die jeweils anderen das auch tun und nicht privat auf irgendeine Party gehen. An der Theaterakademie hatten wir – toi toi toi – bisher keinen einzigen Corona-Fall, der bei uns entstanden wäre. Aber der permanente unterschwellige psychologische Stress, der wirkt sich natürlich auch auf eine künstlerische Arbeit aus.

Sie haben schon von Nähe und Grenzüberschreitung gesprochen – es gibt noch mehr solcher Schlagworte, die eigentlich so viel mit Kunstentwicklung zu tun haben und gerade aber so gefährlich sind: Regelbruch, Übermut, Ausschweifungen, Rebellion, das gilt für angehende freie Künstler genauso wie für Schauspieler, die loslassen sollen, Masken fallen lassen müssen…

Köttering Das ist richtig. Wir haben uns an der HFBK ziemlich früh entschieden, diese Zeit als eine Bedingung zu nehmen, als eine Conditio Humana, mit der man arbeiten muss. Man kann darauf reagieren und innerhalb der Bedingungen auch Überschreitungen und Übermut zulassen. Nicht so platt, dass wir eine künstlerische Performance machen würden, in der man 30 Leuten knuddelt, um mal zu sehen, wo das hinführt. So natürlich nicht. Aber es war schon immer Aufgabe der Künstler, sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen auseinanderzusetzen. Ohne Publikum ist das alles allerdings fürchterlich traurig. Aber auch dort lassen sich natürlich neue Wege finden.

Dhein Es entstehen sehr gute Arbeiten, auch unter den Auflagen, die man hat, und mit all dem Verantwortungsstress, der dazu kommt. Das alles führt zu einer hohen Konzentration auf das, was möglich ist. Man kann nicht ausweichen.

Die kreative Wachheit wird geschärft?

Dhein Genau. Natürlich ist da immer ein Verlustgefühl, das muss man anerkennen. Und wir müssen natürlich schauen, was draußen passiert: Bleiben die Strukturen erhalten? Sind Stadttheater gefährdet, wie geht es der Freien Szene? In welche Welt gehen die jungen Menschen, die ihre Ausbildungszeit während der Pandemie hatten?

Das ist ein interessanter Punkt. Wer sich für ein Künstlerleben entscheidet, tut das selten aus finanziellen Gründen, da ist viel Idealismus und innerer Drang dabei. Im Laufe der Corona-Krise kämpfen nun besonders viele Künstlerinnen und Künstler um ihre Existenzen, ist das Thema auch unter den Studierenden präsenter?

Köttering Ich glaube nicht, dass die Pandemie diesen Diskurs verschärft hat. Aber man kann schon sagen, dass das in den letzten Jahren grundsätzlich zu einem stärkeren Thema geworden ist. Bei den bildenden Künstlern hat die Auseinandersetzung damit, wie man mit seiner Kunst auch Geld verdienen kann, eine neue Relevanz bekommen. Ich beobachte das hier an der Hochschule ja schon seit fast 20 Jahren, und ich würde schon sagen, dass der pure Idealismus früher ausgeprägter war. Das hat sich geändert. Seit drei, vier Jahren machen wir Professionalisierungsangebote, das galt an einer Kunsthochschule bislang als eher unsexy. Aber das wird heute wahrgenommen und angenommen. Und selbstverständlich wird trotzdem die Frage weiterdiskutiert, ob Kunst überhaupt „für den Markt“ produziert werden darf, ob es da nicht um ganz andere, höhere Wahrheiten geht. Was sich allerdings dramatisch verändert hat, ist die aktuelle finanzielle Situation. Es gibt viele Studenten, die nicht von den Eltern unterstützt werden, aber auch kein BaföG bekommen, sondern sich komplett selbst finanzieren müssen. Diese Möglichkeit ist seit einem Jahr oft total zusammengebrochen. Wir haben richtig viele finanzielle Notfälle.

Was genau bedeutet das, und wie kann die Hochschule dabei helfen?

Köttering Wir haben einen Notfallfonds aufgestellt, für den besonders der Freundeskreis der HFBK inzwischen fast 50.000 Euro gespendet hat. Damit konnten wir den Studierenden in der größten Not helfen – dort, wo tatsächlich Obdachlosigkeit droht. Wir haben um die 60 von 800 Studierenden in einer akuten Notlage. Manche Situationen haben sich in diesem Jahr dramatisch entwickelt.

Dhein Das kann ich bestätigen. Es ist zum Teil wirklich richtig prekär, es sind ja die typischen Studentenkneipenjobs weggefallen. Wir haben gerade Notstipendien verteilt und haben zum Glück viele Stiftungen, die die Studierenden unterstützen.

Ein Jahrgang hat während der Pandemie schon das Studium beendet – wissen Sie, wie es den Absolventinnen und Absolventen ergangen ist?

Köttering Der Übergang in die Selbstständigkeit ist ohnehin schwierig und wird meist mit Zwischenjobs überbrückt, bis man in einer Galerie oder einer Produktion angekommen ist und halbwegs davon leben kann. Wir haben vor einem Jahr – also noch vor Corona – eine große Untersuchung abgeschlossen, in der wir herausfinden wollten, was aus unseren Absolventen der letzten zehn, 15 Jahre geworden ist. Dabei haben wir zu unserer großen Freude festgestellt, dass mehr als zwei Drittel der Befragten auch viele Jahre nach dem Studium ihren Lebensunterhalt aus künstlerischen oder kunstnahen Tätigkeiten bestreiten. 95 Prozent sind selbst nach wie vor als Künstler aktiv. Wenn man das Kunststudium nicht so sehr als Ausbildung, sondern als Entwicklung einer künstlerischen Persönlichkeit betrachtet, dann liegt der Erfolg nicht nur darin, damit Geld zu verdienen. Ich bin deshalb auch nicht ganz so frustriert, wie ich es vielleicht sein sollte. Nicht gesehen zu werden, das ist die größte Erschwernis und der größte Schmerz.

Dhein Die Theater sind sich ihrer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen bewusst, es gab Engagements, und zwar gute und viele. Auch die Regiestudierenden hatten Angebote, die wie derzeit alles natürlich verschoben wurden. Unser Festival Körber Studio Junge Regie hat nicht digital stattgefunden, es war der große Wunsch der Regiestudierenden, dass es in diesem Sommer stattdessen eine Doppel-Edition geben soll. Die planen wir gerade, tja… Wir hoffen, dass sie stattfinden kann. Sichtbarkeit ist für alle Absolventinnen und Absolventen das entscheidende. Man schöpft ja aus dem Jetzt und Hier – es geht immer auch um die Co-Präsenz mit dem Publikum. Die Reaktionen sind ja jeden Abend anders. Diese Erfahrung, die sich ja auch einschreibt in eine künstlerische Entwicklung, die fehlt unendlich. Und das Theater ist plötzlich in ein Medium verfrachtet, für das sich die Studierenden explizit nicht entschieden haben. Sie sind ja eben nicht auf eine Filmhochschule gegangen. Es gibt nach wie vor ein ganz klares Bekenntnis zum schwarzen Raum. Aber auch eine große Neugier auf hybride Formate.

Sie haben den Studierenden vor dem aktuellen Lockdown unter anderem diesen Satz gemailt: „Verlassen Sie die Hochschule, wenn Sie dort mit dem Unterricht, dem Proben oder dem Üben fertig sind“. Plötzlich wird ein sonst wichtiger, identitätsstiftender Ort zur nüchternen Wissensvermittlungsanstalt. Wie schwer fiel ihnen das?

Dhein Es ist richtig traurig. Die Hochschule ist normalerweise ein Ort der Begegnung, da entstehen Teams, die manchmal ein Leben lang miteinander arbeiten. Die treffen sich jetzt als briefmarkengroße Köpfe auf Zoom. Wir haben Kooperationen mit der HFBK, mit der HAW, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, das ist ja eigentlich eine Community, eine riesige Gemeinschaft hier...

Köttering Es ist wirklich schmerzhaft. Das Zusammenkommen von Künstlerinnen und Künstlern ist ja ein wesentlicher Bestandteil der Lehre. Man lernt wahnsinnig viel, wenn man in den Ecken rumhängt und zuhört, wie die anderen über Kunst reden. Ich bin immer noch fast täglich im Büro – und wenn man in das große, imposante Gebäude am Lerchenfeld kommt, das seit Monaten quasi leer ist… Wir haben jetzt eine Eingangskontrolle, das ist schon rein visuell schmerzhaft. Die Studierenden müssen sich mit kleinen Chipkarten am Eingang ein- und wieder austragen, damit wir die Nachverfolgung fürs Gesundheitsamt sicherstellen können. Dass diese Schule, die so für Freiheit steht, jetzt diesen Apparat hat – also, das ist symbolisch kaum auszuhalten. Aber es ist unsere Aufgabe, mit all diesen Bedingungen zu arbeiten und sie auch zu verarbeiten. Stellvertretend für die Gesellschaft. Ich bin zuversichtlich, dass die Kraft der Künstlerinnen und Künstler, die wir an den verschiedenen Hochschulen haben, dafür ausreicht.