Hamburg. Die Pianistin Sijia Ma gehört zu den Nachwuchskünstlern, die im Haus der Schmidts auftreten. Ein Ortsbesuch in Langenhorn.

Das Wohnzimmer von Helmut und Loki Schmidt in Langenhorn: Der leicht antiquierte Denon-Plattenspieler hat keine Schutzhaube mehr, die No-Name-Lautsprecherboxen liegen in einem sich durchbiegenden Holzregal, eingekeilt zwischen dem Balzac-Gesamtwerk und einer Musiklexika-Reihe. Ein Albtraum für Hifi-Puristen und Innenausstatter. Einerseits. Andererseits Ausdruck eines sympathischen Pragmatismus, in dem High-End-Technologie und hippe Designkonzepte nie eine Rolle gespielt haben.

Wenn die Schmidts in ihrem Haus am Neubergerweg Musik hören wollten, sagt dieses Arrangement, dann war das schlicht Teil ihres auch sonst wenig mondänen Alltags. Dann legten sie eine Schallplatte auf und setzten sich aufs Sofa oder in den Ohrensessel. Dass es längst bessere Anlagen mit besserem Klang gab, dass der Wohnraum auch große Standlautsprecher vertragen hätte: Nicht so wichtig, die alten Geräte funktionierten ja noch. Und überhaupt: Der Platz war begrenzt – im Gegensatz zu all den zu verstauenden Büchern und Platten, die sich über die Jahrzehnte angesammelt hatten und auf mehrere Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock verteilt wurden.

Der Besuch im Haus der Schmidts ist eine Art Zeitreise

Zwar sind die Bilder wegen Malerarbeiten gerade von den Wänden genommen, doch sonst sieht hier alles noch genauso aus wie zu Lebzeiten des Paares. Selbst die Silberschatulle mit einem Dutzend Mentholzigaretten der Marke Reyno Lights ist noch an ihrem Platz in Helmut Schmidts Arbeitszimmer. Wer durch die Räume geht, macht eine Zeitreise in die Siebziger, als die Wände noch mit Raufaser tapeziert oder akkurat vertäfelt waren, das Mobiliar gar nicht dunkelbraun genug sein konnte und sprudliges Mineralwasser aus weiterverwendeten Senfgläsern getrunken wurde.

Auch Sijia Ma betrachtet das Ambiente staunend. Sie ist hier, um den Steinway-Flügel, den Helmut Schmidt regelmäßig spielte, in Augenschein zu nehmen. Die junge Pianistin wirkt an einem Programm aus Konzert und Lesung mit, das am 3. März live aus dem Haus der Schmidts gestreamt wird; mit ein wenig Chopin wärmt sie sich auf.

Im Alter von vier Jahren begann Sijia Ma in ihrer südchinesischen Heimat nahe der Elf-Millionen-Stadt Guangzhou (Kanton) mit dem Klavierspiel, nicht ganz freiwillig, wie sie mit einem Lächeln erzählt. Ihr Vater, selbst Geiger und Sänger, habe sie schon als kleines Kind morgens mit Mozart-Klavierkonzerten oder Opernausschnitten geweckt, einen gewissen Leistungsdruck habe es in der Familie immer gegeben.

„Wahrscheinlich bin ich bei meinen Schülern manchmal zu nett“

Als sie zwölf war und bereits erste Wettbewerbe gewonnen hatte, empfahl ihr Klavierlehrer zum weiteren Studium den Wechsel nach Deutschland. Aber von der ersten Reise nach Weimar, die Sijia Ma mit ihrem Vater antrat, erinnert sie vor allem, dass sie „jeden Tag geheult“ habe, weil sie die Mutter so vermisste. Mit 16 war sie dann bereit für den großen Sprung, besuchte zunächst das Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar, später die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, wo sie nach bestandener Master-Prüfung inzwischen selbst unterrichtet und sich „nebenbei“ auf ihr Konzertexamen vorbereitet.

Längst spricht die heute 24-Jährige perfekt Deutsch, immer wieder sprudelt es nur so aus ihr heraus. „Wahrscheinlich bin ich bei meinen Schülern manchmal zu nett“, sagt sie. Von ihren russischstämmigen Lehrern in China sei sie große Disziplin gewohnt: „Mir haben manchmal vor einer Klavierstunde die Hände vor Aufregung und Angst gezittert.“ Natürlich sei das nicht angenehm gewesen, doch heute wisse sie, dass alle es immer gut mir ihr meinten, das Maximale aus ihrem Talent herausholen wollten. In Deutschland laufe vieles deutlich entspannter ab, manchmal wohl auch zu entspannt. Da gebe es eben erhebliche Mentalitätsunterschiede.

Dass Sijia Ma in der Reihe „Schmidt-Kultur“ auftritt, ist kein Zufall. Die Stipendiatin der Franz Wirth Gedächtnis-Stiftung passt als hochbegabte junge Musikerin perfekt zu den Schmidts, wie Stefan Herms, geschäftsführender Vorstand der Helmut und Loki Schmidt Stiftung, erklärt. Das Ehepaar sei immer sehr an der Nachwuchsförderung interessiert gewesen, die Bindung nicht nur zur Musikhochschule, sondern auch zur Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg war eng. Ganz besonders wohl bei Loki Schmidt, die am 3. März ihren 102. Geburtstag gefeiert hätte. „Als Lehrerin lag ihr die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler sehr am Herzen“, sagt Herms, „dabei war es ihr wichtig, einen Zugang zur Musik zu schaffen.“

Helmut Schmidt nahm selbst mehrere Schallplatten auf

Und natürlich war Helmut Schmidt auch selbst Pianist, gemeinsam mit Christoph Eschenbach, Justus Frantz und Gerhard Oppitz nahm er sogar Platten auf. „Unglaublich, dass ein Bundeskanzler sich so damit beschäftigt hat und ein so guter Pianist war“, staunt Sijia Ma. Tatsächlich betrachtete Schmidt seine Fähigkeiten eher hanseatisch-nüchtern, empfand sie als „respektabel“ und musste zu den Plattenaufnahmen überredet werden.

Wie es genau um die Musikliebe der Schmidts bestellt war, weiß der Hamburger Erziehungswissenschaftler Reiner Lehberger. In seinem Buch „Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar“ hatte er dem Musik- und Kunstfaible der beiden bereits ein Kapitel gewidmet, im Livestream wird er daraus lesen. Und gewiss Vorfreude auf ein neues Buch lenken, an dem er gerade schreibt und das im Herbst erscheinen soll: „Helmut Schmidt am Klavier. Ein Leben mit Musik“.

Welche große Bedeutung die Musik für das Ehepaar Schmidt hatte, zeigt natürlich der regelmäßig genutzte Steinway-Flügel im Wohnzimmer, an dem Sijia Ma beim Stream nicht nur solo spielen, sondern auch die Nachwuchs-Sängerinnen Antonia Brinkers, Linda Wesche und Lisa Scheffler begleiten will. Das belegt aber auch die große Musikbibliothek im ersten Stock des Hauses, in dem viele Regalmeter mit Klassik-Schallplatten gefüllt sind, alphabetisch sortiert nach Komponistennamen. Selbstverständlich gibt es dort das Orgel-Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach, den Schmidt, selbst passionierter Orgelspieler, besonders liebte. Aber auch Tschaikowski-Sinfonien und Händel-Opern, sogar umfangreiche LP-Schatullen aus der Reihe „Zeitgenössische Musik in der Bundesrepublik Deutschland“ finden sich. Auf die Form, das technische Equipment im Wohnzimmer, mögen Helmut und Loki Schmidt eher wenig Wert gelegt haben, der Inhalt jedoch ging dem „Jahrhundertpaar“ unübersehbar über alles.

„Schmidt-Kultur“ Mi 3.3., 18.00, aus dem Wohnzimmer von Helmut und Loki Schmidt. Kostenloser Livestream unter helmut-und-loki-schmidt-stiftung.de/live