Hamburg. Die Autorin erhält den mit 20.000 Euro dotierten Mara Cassens Preis für „Die Sommer“. Die Verleihung soll im Mai 2021 stattfinden.

Das „Eigentlich wäre…“ ist längst, längst schon zur hohlen, ermüdenden, meist eher resignierten als kämpferischen Losung geworden. Es passt aber halt so oft, zum Beispiel auf den Kulturseiten dieser Zeitung. Also dann an dieser Stelle erneut: Eigentlich wäre am 7. Januar im Hamburger Literaturhaus, wie immer gleichzeitig instrumentiert als Saisoneröffnung, die Verleihung des Mara-Cassens-Preises über die Bühne gegangen.

Es wäre ein wie immer schöner, eher intimer Abend - das Literaturhaus ist eine von Hamburgs behaglich-persönlichsten Kulturstätten, möchte man meinen - geworden mit Lobpreisungen, Erkenntnisgewinnen und Charme-Intermezzi, jedenfalls aufs meist Trefflichste ausformulierten Gedanken. Und der Rahmen wäre ja noch imposanter gewesen, wenn man denn Strahlkraft durch Preisgeld mal an die erste Stelle setzt. Der Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt des Jahres war ohnehin der höchstdotierte seiner Art in Deutschland mit zuletzt 15.000 Euro. Kürzlich hat Mäzen Holger Cassens, der mit seiner verstorbenen Frau seit vielen Jahren zu den wichtigen Kulturgönnern der Stadt gehört, dieses Preisgeld aufgestockt.

Eine ehrenamtliche Leserjury hat entschieden

Und so bekommt die 1993 in München geborene und in Leipzig lebende Ronya Othmann neben dem Eintrag in die Siegerliste nun 20.000 Euro, aber zunächst keine feierliche Preisverleihung im Literaturhaus. Othmanns Roman „Die Sommer“ ist ein würdiger Preisträger und im übrigen auch ein typischer, wenn man sich zunächst einmal die jüngere Geschichte der Auszeichnung anschaut. Denn Othmann folgt zwar auf Emanuel Maeß, der 2019 für seinen Roman „Die Gelenke des Lichts“ ausgezeichnet wurde.

Vorher wurden allerdings seit 2013 sechsmal Schriftstellerinnen ausgezeichnet. Und so darf man sagen: Die Jury des Mara Cassens Preises ist die Speerspitze des zeitgeistigen, den Ausgleich zu früheren weiblichen Marginalisierungen suchenden Geschlechterdenkens. Muss man aber nicht, kann ja auch sein, dass der Zufall am Werk ist, beziehungsweise das Urteil der unbestechlichen Jury halt nun mal das jeweils beste Werk eines Kalenderjahres meist in der Gruppe der weiblichen Autoren fand.

Die Jury ist einzigartig in Deutschland

Über jene Jury gibt es dasselbe festzuhalten wie immer. Sie ist einzigartig in Deutschland. Kein Konsortium von Fachidioten aus Redaktionen und Verlagen, sondern eine ehrenamtliche Leserjury mit 15 Mitgliedern des Literaturhaus-Vereins entschied über die Preisträgerin, die diesmal unter 58 eingereichten Debüts ausgewählt wurde. Wie zu hören ist, war auch Denis Ohne mit ihrem an gesellschaftlichen Klassen interessierten Roman „Streulicht“ unter den Favoriten — recht so. Dass nun aber „Die Sommer“ gekürt wurde, ist unbedingt gutzuheißen. Zum Beispiel auch deswegen, weil Ronya Othmann fesselnd und anspruchsvoll zugleich erzählt.

Die Cassens-Jury gilt eher als konservativ und mag eine klassische Erzählweise. Im Falle des vorliegenden Romans haben wir es mit verschiedenen Zeitebenen zu tun und einer bruchstückhaften Collage, und dennoch entblättert sich das Thema des Romans, der unverkennbar autobiografisch grundiert ist, in bemerkenswerter Klarheit. „Die Sommer“, das sind die Urlaube der Familie in der syrischen Heimat des Vaters. Dieser ist Kurde und Jeside, also ist Syrien ein Konstrukt für ihn, das ihm und seiner Familie viel Schmerz zufügt. Von diesem Schmerz erzählt der Roman, und er erzählt von der Bi-Kulturalität Leylas. Die Heranwachsende und später junge Frau steht im Mittelpunkt der Handlung, gibt als Erzählzentrum aber aber auch den anderen Familienmitgliedern einigen Raum.

Leylas Erfahrungshorizont teilt sich in die Zeit vor und nach dem Krieg in Syrien

Mit diesen Figuren, vor allem der Großmutter, lernt sie Kultur und Religion kennen. Leylas Erfahrungshorizont teilt sich in die Zeit vor und nach dem Krieg in Syrien. Aus dem Idyll wird die Katastrophe, dabei ist die Gefährdung und die gespaltene Identität des Vaters schon früh Thema. Als Angehöriger einer doppelten Minderheit musste er den Gewaltherrscher Assad stets fürchten.
Die Verfolgung der Jesiden durch den IS mag erst später kommen, aber es ist ja auch ein kurdisches Unheil, das den Vater betraf. Über die Heimat des Vaters heißt es zu Beginn des Romans, dass sie zwei Namen trage. „Das eine Land war Syrien, die Syrische Arabische Republik. Das andere war Kurdistan, ihr Land. Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das.“

Ronya Othmanns Vater floh unter Todesgefahr aus Syrien

Der Vater durfte in Syrien nicht studieren, weil er sich weigerte, für den Geheimdienst zu arbeiten. Er musste unter Todesgefahr nach Deutschland flüchten. Später folgte die gesamte Familie, „Die Sommer“ erzählt also vor allem auch eine Flüchtlingsgeschichte und damit en passant von dem Land, das jene unter dramatischen Umständen entwurzelte Familie aufnahm: von Deutschland, das Asyl nicht ohne weiteres zu allen Zeiten jedem gewährt.

2019 gewann Othmann bereits den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Viel Lob bekommt sie nun zu Recht auch in Hamburg. „Das Beeindruckende an diesem Roman ist, dass er nicht belehrt und man doch so viel lernt: über die Musik, über den Engel in Pfauengestalt, über die Zubereitung von Speisen; ebenso wie über den Krieg in Syrien, die Bedrohung, die Flucht. Die Autorin beschreibt statt zu bewerten, sie erzählt ohne erschöpfend zu erklären“, heißt es in der Jurybegründung.

Die nun ausfallende Preisverleihung soll am fünften Mai 2021 nachgeholt werden. Ehre, wem Ehre gebührt.