Hamburg. Die berühmte Geigerin wirkte bei einem Gottesdienst zum 3. Advent mit, um auf die Notlage der Musiker aufmerksam zu machen.
Auf der Michel-Orchesterempore sind alle gleich. Ob es Hundertschaften von Chorkindern sind oder professionelle Ensembles, ob Gesangssolisten oder einzelne Organisten, sie alle nimmt das weite helle Rund mit den kniehohen Stufen freundlich auf. Kurz vor Beginn des Gottesdienstes zum 3. Advent sind die Stufen leer – bis eine zierliche Gestalt im schwarzen Pullover hereinhuscht und sich zum Zuhören auf die unterste Stufe hockt, ohne Aufhebens und so, als wäre ihr der Raum selbstverständlich vertraut.
Aber das täuscht. Die Frau dort oben ist keine Hamburger Sängerin, die auf ihren Einsatz wartet. Wohl niemand, der es nicht wüsste, würde die Geigerin Anne-Sophie Mutter in ihr erkennen, zumal sie ihr Instrument in dem Moment nicht dabei hat.
Mutter gibt Michel-Debüt
Mutter gibt an diesem Morgen gewissermaßen ihr Michel-Debüt. Wobei der Ausdruck „Debüt“ mitten hineinführt in das Besondere an der Veranstaltung. Ja, sie ist als Gottesdienst angekündigt worden, aber kaum war bekannt geworden, dass die mutmaßlich berühmteste Geigerin der Welt spielen würde, waren die 250 Platzkarten, die der Michel unter Corona-Regularien ausgeben darf, auch schon vergeben.
Mutter ist mit drei Stipendiaten ihrer Stiftung gekommen, um Streichquartett zu spielen. Sie haben schon bei anderen Gottesdiensten mitgewirkt, in der Leipziger Thomaskirche etwa und im Berliner Dom.
Das Warum dieses ungewöhnlichen Rahmens erklärt sich beim Blick auf die allgemeine Lage: Gottesdienste sind die einzigen öffentlichen Veranstaltungen, bei denen es – zumindest an diesem Sonntagmorgen noch – erlaubt ist, Musik zu machen. Für die freiberufliche Szene sind kleine Gottesdienst-Muggen (so nennt man musikalische Engagements) die letzten verbliebenen Gelegenheiten, mit Spielen Geld zu verdienen; viele Kantoren überlegen sorgfältig, wen sie von ihrem häufig sehr schmalen Budget beschäftigen könnten.
Mutter sammelt Spenden für Musiker
Selbst eine Anne-Sophie Mutter darf im Moment in Deutschland ihren eigentlichen Beruf als Konzertgeigerin nicht versehen. Weil das allen so geht und weil für viele von Mutters freiberuflichen Musikerkollegen das Wegbrechen ihrer ohnehin sehr bescheidenen Honorare existenzbedrohend wirkt, reisen Mutter und ihre Schützlinge durch Deutschland. Um auf die Situation der Musiker aufmerksam zu machen und, ganz konkret, um Spenden einzuspielen. Dabei bittet Mutter ganz pragmatisch um Zuwendungen an die Deutsche Orchester-Stiftung. Die gibt es schon, über sie konnten in Not geratene Musiker bereits im Frühjahr Hilfen beantragen, die vergleichsweise unbürokratisch flossen. Darum, auf jedem Überweisungsträger den Namen einer eigenen Institution zu lesen, geht es Mutter ersichtlich nicht.
Ein Konzert-Spendeneinwerbe-Gottesdienst also, ein weiteres der vielen Hybridformate, die diese Krise schon hervorgebracht hat. Wer das Glück hat, dabei zu sein, wird über diese Verflechtung der Zwecke nicht die Nase rümpfen. Die vielen rituellen Mosaiksteinchen, die einen Gottesdienst schon in normalen Zeiten zu etwas Bergendem, Umfangendem machen, funkeln auch an diesem Morgen. Pastorin Julia Atze holt bei der Begrüßung der Künstler ein wenig tiefer Luft als gewöhnlich, aber spätestens bei der Predigt strömt ihre warme, modulationsreiche Stimme wieder und erzeugt unter den Anwesenden einen Hauch von Zusammengehörigkeitsgefühl trotz der penibel eingehaltenen Abstände.
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Mutter ist mit der professionellen Perfektion dabei, die man von ihren Bühnenauftritten kennt. Dem Organisten Jörg Endebrock und den Sängern des Chors St. Michaelis, die die Lieder singen, hört sie sehr genau zu, im genau rechten Moment erhebt sie sich, um ihre Geige zu holen, erst kurz vorm Einsatz setzt sie die Maske ab und die Brille auf.
Die akustischen Tücken des Michels
Die vier Sätze von Haydns Quartett op. 20 Nr. 1 Es-Dur rahmt die Predigt und das Glaubensbekenntnis ein. In den schnellen Sätzen zeigen sich dann die akustischen Tücken des Michels. Der riesige Raum war seit der großen Restaurierung vor einigen Jahren ohnehin schon halliger als vorher, und das Fehlen des Publikums verstärkt den Effekt noch. Jede schnelle Passage verschwimmt. Nicht zu ändern. Atmosphäre entsteht trotzdem, wenn man sich ein wenig eingehört hat. Und der langsame Satz wird schier zum Gebet.
Es zerreißt einem das Herz, wenn Hauptpastor Alexander Röder das Abendmahl unter Corona-Bedingungen erklärt: Es wird dezentral gereicht, ohne Wein, hinter Plexiglaswänden. Wer will, kann vorbereitete Pakete mit konsekrierten Hostien mitnehmen und das Abendmahl mit Menschen teilen, denen der Kirchbesuch nicht möglich war.
Zum Schluss spielen Mutter und die Ihren noch den hochdramatisch bewegten Quartettsatz c-Moll von Schubert, der ausgesprochen solistische Passagen für die erste Geige bereithält. Dankbarer, kurzer Applaus, dann verlassen die Menschen die Kirche. Es geht schnell.
Nagano gratuliert der Geigerin
Bevor sie ins Taxi zum Flughafen steigt, steht Anne-Sophie Mutter noch einen Moment lang neben dem riesigen Weihnachtsbaum. Unter den paar Gratulanten ist auch der Hamburgische Generalmusikdirektor Kent Nagano, Mutter freut sich sichtlich, ihn zu sehen. Erläutert engagiert ihr Anliegen. Ihre Werkauswahl erklärt sie so: „Haydn und Schubert haben, wie die meisten Komponisten, weltliche und sakrale Musik geschrieben. Für mich ist jede Musik wie ein Gottesdienst.“
Bündiger kann man das Wesen von Musik nicht formulieren.