Hamburg. Bei Stage Entertainment laufen die Castings für die kommende Musical-Premiere – mit Abstand, Schnelltests und Videokonferenzen.
Ich habe nur einen Schuss“, dürfte sich Alexander Hamilton, Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika und erster Finanzminister, gedacht haben, als er am Morgen des 11. Juli 1804 am Ufer des Hudson zum Duell auf Leben und Tod gegen seinen Widersacher Aaron Burr antrat. Das gleiche singen – und denken – auch die Schauspieler Benét Monteiro und Francisco del Solar am 8. Dezember 2020, als sie am Ufer der Elbe zu den Castings für die Hauptrolle im kommenden Stage-Musical „Hamilton“ antreten.
Es sind unruhige Zeiten damals wie heute. Die Bühnen der Musicals von Stage Entertainment sind geschlossen, auch der Probebetrieb liegt lahm. Die Ensembles sind in Kurzarbeit, mehr staatliche Unterstützung gibt es für den Unterhaltungsgiganten mit 1700 Mitarbeitenden in 13 Theatern nicht. Von 300 Stellen in verwaltenden und administrativen Bereichen sollen bis Ende 2021 wohl 100 gestrichen werden. Trotzdem plant Stage für die Zukunft und in Hamburg für die Premieren von „Wicked“ im Mai, „Die Eiskönigin“ im August und „Hamilton“ im November 2021.
Schnelltest-Station wurde eingerichtet
Bis dahin heißt es, sich so gut es geht mit den Umständen zu arrangieren, auch beim Probesingen der Bewerber für die Hauptrolle in „Hamilton“. In der Stage-Zentrale in der HafenCity wurde eine Schnelltest-Station eingerichtet, um die Kandidaten, aber auch anwesende Journalisten auf etwaige Ansteckungsgefahren zu prüfen. Stäbchen in den Rachen, Stäbchen durch die Nase. Das ist schmerzhaft und treibt Tränen in die Augen, dafür gibt es nach 20 Minuten das negative Ergebnis. Anschließend beginnt für Benét, Francisco und eine Handvoll weiterer Bewerber an diesem Tag der wirklich unangenehme Teil.
Beide sind schon alte Hasen auf der Bühne, der in Brasilien geborene und in Hamburg lebende Benét spielte bereits in „Der König der Löwen“, „Mamma Mia!“, „Sister Act“ und „Kinky Boots“, Francisco, Wahlberliner aus Peru, sang in „Aladdin“, „Rocky“, „Sister Act“, „Jesus Christ Superstar“ und „On Your Feet“. „Hamilton“ soll jetzt für beide die erste große Hauptrolle werden, für sie ist es „der Mount Everest der Musicalrollen“, wie Benét sagt. Er übertreibt nicht.
„Hamilton“ ist der Mount Everest der Musicalrollen
„Hamilton“ ist das ambitionierteste Projekt von Stage in Deutschland, auch weil ein Erfolg anders als bei „Die Eiskönigin“ oder „Tina“ nicht garantiert ist. Schon der riesige Erfolg am Broadway mit elf Tony Awards (dem Musical-Oscar), einem Grammy und sogar einem Pulitzer-Preis war bei der Premiere 2015 nicht absehbar. Denn anders als viele andere Musicals ist „Hamilton“ auf und hinter den Kulissen sehr politisch, und inhaltlich sehr komplex. Deutsche Zuschauer brauchen schon ein wenig Buchstudium, um der rund um den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775 bis 1783) spielenden Geschichte folgen zu können. Sie wird begleitet von mitreißendem Hip-Hop, Pop, Jazz und Musical-Scores und gespielt von einem nahezu ausschließlich nicht-weißen Ensemble. George Washington, Alexander Hamilton, Thomas Jefferson oder der Marquis de Lafayette werden von People of Color verkörpert. Das ist so progressiv wie provokant.
Das schwingt auch mit, als Benét und Francisco ihre Solos im Probensaal haben. Das deutsche Team um die leitende künstlerische Produzentin Simone Linhof wartet mit weitem Abstand an Tischen, die US-Produzenten Patrick Vassel, Kurt Crowley und Michael Mindlin sind per Video- und Telefonkonferenz zugeschaltet. Sprich die Kandidaten singen und rappen in einen Bildschirm. Mehr als beachtlich, wie sie sich auf diesem Neuland behaupten.
Musical kommt seinem historischen Vorbild nahe
Zu Klavierbegleitung geben sie die eingedeutschten Versionen von „Hamilton“-Hits wie „My Shot“, „Yorktown“ oder „Hurricane“, und vor allem die Rap-Stücke haben es in sich: Wie die Salven der britischen Linieninfanterie prasseln schnelle Reime mit Begriffen wie „Sozialarbeit“, „Abolitionisten“, „Sklavenhalter“, „Wein dekantieren“, in die die Kandidaten auch noch Emotionen und Charakterzüge der Rollen und ihre historischen wie aktuellen Bedeutungen legen müssen. „Sing es noch mal und denk an seine Hingabe, seine Verantwortung und daran, dass er als Waise aufwuchs“, ermutigen die Produzenten meist auf Englisch in ihren Rückmeldungen.
Es kann nur Stunden oder noch Wochen dauern, bis die Kandidaten erfahren, ob und wen sie in „Hamilton“ spielen dürfen. Und viele Umstände, Visionen, Debatten, Hoffnungen, Erfolge und Rückschläge bleiben für alle Beteiligten ungewiss. Da kommt ein Musical seinem historischen Vorbild nahe.