Hamburg. Das Werk des 2015 gestorbenen Nobelpreisträgers erscheint gesammelt in der Neuen Göttinger Ausgabe. Es polarisiert wie zu Lebzeiten.
„Helden? Ach was, die brauchen wir nicht“, winkte Günter Grass 2003 in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ ab. Was hätte er wohl von der monumentalen Gesamtausgabe gehalten, die nun zu Ruhm und Ehre des Nobelpreisträgers erschienen ist? Das letzte von Grass autorisierte Buch heißt „Vonne Endlichkait“ und erschien postum; für die Ewigkeit gedacht ist dagegen die Neue Göttinger Ausgabe seiner Werke, die der Steidl Verlag unlängst der Öffentlichkeit vorstellte. In 24 Bänden liegen nun erstmals alle seine belletristischen und essayistischen Arbeiten in einer Ausgabe vor.
Dazu enthält sie einen Band mit Gesprächen, die von 1958 – jenem Jahr, in dem Grass’ Stern mit der Verleihung des Preises der Gruppe 47 aufging – bis zu seinem Todesjahr 2015 reichen. In Romanen, Erzählungen und Novellen, Theaterstücken und Gedichten, aber auch in politischen Reden und Essays zeigt sich Grass’ literarische Schöpferkraft in ihrer ganzen beeindruckenden Vielfalt. Die angemessene äußere Form hat die beinahe 11.000 Seiten starke Ausgabe seinem langjährigen Verleger Gerhard Steidl zu verdanken.
Problematisches Verhältnis zum Dritten Reich
Außen ochsenblutrotes Leinen, innen Bibeldruckpapier aus Frankreich; die Bücher schmeicheln Augen und Händen. Jedes der auf 1000 Stück limitierten Exemplare wird in einer handgefertigten Holzkassette ausgeliefert, auf dessen Seiten Grass’ weit ausschwingende Signatur gedruckt wurde. Kurzum: Die Ausgabe ist ein bibliophiles Kleinod, ein Meisterwerk zeitgenössischer Buchkunst. Nicht von ungefähr resümiert Verleger Steidl: „Die Werkausgabe ist das schönste Buchobjekt, das ich je verlegt habe.“
Als Leser freue man sich durchaus über die schöne Ausgabe, findet auch der Marburger Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck, der Spezialist für Gegenwartsliteratur und literarischen Antisemitismus ist. Dass diese Form der Grass-Verehrung aber gerechtfertigt sei, bezweifelt er. Süselbecks Kritik entzündet sich abermals an Grass’ notorisch problematischem Verhältnis zum Dritten Reich. So falle etwa in der als mustergültige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geltenden Novelle „Katz und Maus“ die totale Abwesenheit der Shoah ins Auge.
Schiefe Sprachbilder
Süselbeck sieht diesen Mangel nicht nur im Frühwerk. Auch in Grass’ Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ von 2006, in dem der Autor seine berüchtigte SS-Beichte ablegte, werde von der Schuld abgelenkt. Wie schon bei „Katz und Maus“ schlage „die zähneknirschende Bekenntnisstimmung“ immer wieder in einen „Ernst-Jünger-Stil“ um, der den Krieg letztlich als heldenhaftes Ereignis verkläre. Süselbeck hat deshalb gerade dem Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung empfohlen, bei der Lektüre für das Abitur zukünftig auf Grass zu verzichten und stattdessen Opfer der Naziherrschaft wie die kürzlich verstorbene Ruth Klüger zu Wort kommen zu lassen.
Auch die künstlerische Grass-Qualität wird von Süselbeck in Zweifel gezogen. Er bemängelt, dass in „Katz und Maus“ das Novellenschema „krampfhaft umgesetzt“ werde, während „Beim Häuten der Zwiebel“ mit seinen ständigen Wiederholungen ermüde. Grass’ „blumige Sprache“ erzeuge so oft schiefe Sprachbilder, dass sich Süselbeck fragt, „wie es zu so einer Überschätzung kommen konnte“.
Verlogenheit und Schweigen als Schlüsselmotive
Wenig überraschend sieht das Jörg-Philipp Thomsa anders. Was Süselbeck als eindeutig missraten erscheint, ist für den Leiter des Günter-Grass-Hauses in Lübeck Ausdruck jener inneren Zerrissenheit, aus der große Literatur häufig entsteht. Grass veranschauliche die deutsche Geschichte in all ihren Widersprüchen. Die Verlogenheit und das Schweigen seien gerade die Schlüsselmotive, die es ermöglicht hätten, dass sich Millionen Leser – Täter, Opfer und Mitläufer – gleichermaßen mit den Geschichten und Figuren des Grass’schen Werks identifizieren könnten.
Wenn Thomsa etwa an die Beschreibung der Reichspogromnacht in „Der Blechtrommel“ denkt, kann er nur staunen: „So etwas kann in deutscher Sprache nicht besser und eindringlicher beschrieben werden.“ Grass habe „zeitlose Literatur“ geschaffen, die „immer wieder Antworten auf Fragen gibt, die heute virulenter denn je sind, etwa die Themen Geflüchtete, Rechtsradikalismus oder Fridays for Future“. Thomsa verweist etwa auf den Roman „Die Rättin“, der zwar in formaler Hinsicht „ein Monstrum“ sei, aber geradezu visionär im Hinblick auf das Thema Umweltschutz.
Wie lassen sich so unterschiedliche Perspektiven auf das Werk erklären? Muss man zwischen einem frühen und einem späten Grass unterscheiden, deren Qualitäten durchaus verschieden beurteilt werden könnten? Eine solche Sicht legt der Literaturkritiker Volker Weidermann („Der Spiegel“) nahe, der zuletzt ein Buch mit dem Titel „Das Duell: Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki“ vorlegte. Jüngst habe er, erzählt Weidermann, noch einmal den Roman „Hundejahre“ gelesen.
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Er sei begeistert gewesen von der „sprudelnden Fabulierfreude“ und der anarchischen Behandlung von Politik. „Es ist dermaßen verrückt, ich habe auch beim erneuten Lesen noch nicht alles wirklich begriffen“, sagt Weidermann, „ich bin sicher, dieses Buch wird wiederentdeckt werden.“ Mit der einen oder anderen späteren Veröffentlichung habe sich Grass dagegen keinen Gefallen getan. Dem Wenderoman „Ein weites Feld“ von 1995 hafte in der Weise, wie die Figuren als „Bedeutungsträger von eigenen Meinungen“ missbraucht würden, regelrecht etwas „Antikünstlerisches“ an, findet der Kritiker. Bis einschließlich des feministischen Romans „Der Butt“ werde Grass aber Bestand haben, meint Weidermann.
Zurück zur neuen Ausgabe des Gesamtwerks: Sie lädt ein zu manch kritischer Auseinandersetzung genauso wie zum Neuentdecken. In ihrer Aufmachung passe sie gut zu ihrem Autor, findet Jörg-Philipp Thomsa. Trotz ihrer handwerklichen Perfektion und ihres einmaligen Designs sehe sie nicht protzig aus. Damit entspreche sie Grass’ Persönlichkeit und Werk. „Auch Grass hat sein Handwerk perfekt beherrscht“, sagt Thomsa, „und dabei dennoch nie seine persönliche Bescheidenheit verloren.“