Ein Buch über das südkoreanische Honjok-Prinzip erklärt, dass Alleinsein nicht gleich Einsamkeit bedeuten muss.
Kontakte einschränken und sich zurückziehen – dieses Verhalten ist im Corona-Jahr 2020 zu einem Trend geworden, den wir uns selbst nicht ausgesucht haben. Und angesichts steigender Fallzahlen wächst die Angst vor einem neuen Lockdown nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern vor allem auf persönlicher Ebene. Wenn ich mich solidarisch selbst isoliere, verkümmert dann nicht unmittelbar die Seele? Nicht unbedingt.
Wenn im bevorstehenden Pandemie-Winter nun wieder Einigelung angesagt sein sollte, ist es umso wichtiger, eine Kunst zu erlernen, die in unserer hochtourigen Welt zunehmend verloren zu gehen schien: das Alleinsein.
Jetzt kann eine Phase beginnen, sich selbst besser kennenzulernen. Für-sich-sein als Chance. Unterstützung auf diesem Weg findet sich in der asiatischen Kultur. Das südkoreanische Prinzip des Honjok pflegt das Einzel-Dasein und dreht es ins Positive. Eine Entwicklung, die nicht erst mit Corona eingesetzt hat, sondern eng verwoben ist mit dem Wandel globalisierter Zivilisationen.
Höchste Zeit also, das Alleinsein neu zu denken
Honjok (ausgesprochen „hon-juk) ist eine Komposition aus den Worten honja (allein) und jok (Stamm). Als Anhänger dieser Einpersonenstämme wenden sich junge Menschen in Südkorea gegen ein Lebensmodell, das nach wie vor stark von konservativen Familienstrukturen geprägt ist. Vor allem Frauen entziehen sich zunehmend dem sozialen Druck, ihre Karriere für Ehe, Kinder und Küche aufzugeben. Die Geburtenrate in Südkorea zählt zu der niedrigsten weltweit. Und ein Drittel aller Haushalte in der Hauptstadt Seoul sind Einpersonenhaushalte. Doch Honjok ist bei Weitem kein landestypisches Phänomen. In Deutschland etwa lebt jeder Fünfte allein. Tendenz deutlich steigend.
Höchste Zeit also, das Alleinsein neu zu denken. Denn statistisch greift der Söder’sche Ansatz nicht, im Lockdown einfach mit der Partnerin zu Hause zu tanzen. Honjokker drehen vielmehr die Musik auf und rasten ganz für sich aus. Oder sie gehen, wenn nicht gerade Pandemie ist, einfach alleine in einen Club zum Tanzen. In Japan, wo die Solokultur „ohitorisama“ heißt, haben sich Gastronomie und Unterhaltungsbranche längst auf die gestiegene Nachfrage an Einzelaktivitäten eingestellt – mit Angeboten, um alleine Essen zu gehen, zu reisen oder Karaoke zu singen.
Die intimste, beständigste und dauerhafteste Beziehung ist die, die wir mit uns selbst führen
„Manche Menschen kommen in unser Leben und gehen auch wieder. Die intimste, beständigste und dauerhafteste Beziehung aber ist die, die wir mit uns selbst führen“, schreiben die US-amerikanische Gesundheitsberaterin Francie Healey und die chinesisch-kanadische Journalistin Crystal Tai in ihrem soeben erschienenen Buch „Honjok – Die Kunst allein zu leben“. Den Autorinnen geht es darum, die Single-Existenz als gesellschaftlich gleichwertig anzuerkennen und nicht als „Resterampe“ zu diskreditieren. Healey und Tai plädieren dafür, Alleinstehende nicht als „tote Äste“‟ (China) oder „übrig gebliebenen Weihnachtskuchen“ (Japan) zu verunglimpfen, sondern die Solokunst gezielt zu kultivieren. Daher appellieren sie auch an all jene, die als Paar oder in Familien wohnen, in sich zu gehen und zu überlegen, wie viel Zeit sie für sich brauchen. Denn die Honjok-Philosophie soll keineswegs eine Riege von Narzissten produzieren. Im Gegenteil.
„Uns selbst Zeit zu widmen, erlaubt es uns, unsere Verhaltensmuster wahrzunehmen und infrage zu stellen“, schreiben Tai und Healey. Es geht um Eigenverantwortung, nicht um Egomanie. Sich aus dem Zwischenmenschlichen immer wieder herauszulösen, befördere unsere Empathie. Kontemplation verstehen sie als emotionales Krafttanken, um sich bewusst und tiefergehend auf Beziehungen einlassen zu
können.
Konkrete Vorschläge, wie sich der Honjok-Lebensstil erlernen lässt
In ihrem Buch machen die Autorinnen ganz konkrete Vorschläge, wie sich der Honjok-Lebensstil erlernen lässt. Gefragt sind dabei Praktiken, die fernab von To-do-Listen einerseits und Netflix-Eskapismus andererseits liegen: Meditieren und Spazieren, Tagebuch schreiben und Handwerken. Allein ins Café gehen und die Umgebung betrachten. Nichtstun ist da keineswegs nichtsnutzig, sondern schärft die Sinne und lüftet den Geist. Das Introvertierte beflügele Ideen und Innovationen. Bei Besinnlichkeit, Müßiggang oder sogar Langeweile begegnet einem mitunter jedoch die wenig beliebte Schwester des Alleinseins: die Einsamkeit.
„Einsamkeit kommt von einem Fehlen an Verbindung, nicht von der Abwesenheit von Menschen“, erläutern Tai und Healey – und verweisen auf berühmte Individualisten wie Henry David Thoureau, der die Natur als „wohltätige Gesellschaft“ empfand. Die eigene Einsamkeit zu spüren und sich nicht – zum Beispiel mit dem x-ten Blick in die sozialen Medien – von ihr abzulenken, kann durchaus bereichernd sein. Und befreiend. „Es erfordert Mut, allein zu sein“, erklären die Honjok-Fans Tai und Healey. „Wir riskieren dadurch, jenseits der Gruppendynamik und unserer etablierten Identität zu entdecken, wer wir sind.“ Ein vielversprechendes Wagnis.