Hamburg. Mittwoch startet die Frankfurter Buchmesse – eine notgedrungen abgespeckte Spezialausgabe. Wir stellen einige neue Werke vor.
An der Literaturfront ist 2020 wenig los, denn natürlich wäre so eine richtige, fette Buchmesse mit Hunderten Empfängen, Partys und Lesungen, mit gigantisch vielen Messeständen die Superspreader-Veranstaltung par excellence. Die Frankfurter Buchmesse findet in diesem pandemischen Jahr also vor allem online statt – für Fachteilnehmer, aber auch das Lesepublikum, das von Verlagen wie etwa auch Rowohlt in den sozialen Netzwerken versorgt wird. Eine Hallenausstellung wird es nicht geben und nur sehr vereinzelt Veranstaltungen.
Aber dass die weltgrößte Leistungsschau der Literatur sich selbst nicht ganz gestrichen hat, ist nicht unwichtig. Viele in der Branche befürchten dennoch, dass der Buchmarkt noch lange an der Corona-Krise zu knabbern hat. Unter anderem, weil im Jahr des sozialen Abstands und Stubenhockens Lektürestunden eben doch nicht ihr gewaltiges Comeback feierten.
Frankfurter Buchmesse 2020 – mit einigen Geheimtipps
Lesungen – dort, wo sich die Literatur nach ihren sicher beschränkten Möglichkeiten inszenieren kann – fielen kleiner aus oder ganz aus. Das ist schade, denn auch in diesem Jahr sind viele tolle Titel erschienen. Einige der besten aus dem Herbst stellen wir auf dieser Seite vor. John Grisham ist dabei und Jan Weiler, aber auch einige Geheimtipps sind zu finden. Die literarische Produktion macht vor gefährlichen Viren zu unser aller Glück nicht halt.
Deswegen wurde auch diesmal der Deutsche Buchpreis verliehen (siehe Seite 18), und am Sonntag folgt zum Abschluss die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Wirtschaftsphilosophen Amartya Sen in der Frankfurter Paulskirche. Sens Thema ist die globale Gerechtigkeit. Gerecht wollen wir auch in diesem schwierigen Jahr ebenfalls in bibliophiler Hinsicht sein. Es gibt literarisch jede Menge zu entdecken.
Und denken Sie immer daran: Mußestunden in der kalten Jahreszeit dürfen unbedingt unterhaltsam sein, geistig anregend und einen schlauer machen. Greifen Sie zu, die Bücher sind angerichtet – natürlich beim Buchhändler Ihres Vertrauens.
Die Schönheit der Sprache bei Iris Wolff
Eine Umarmung, „die keine Zeit kennt“, heißt es einmal lyrisch in diesem tiefsinnigen, fein getunten Roman, der ganz sicher einer der allerbesten in diesem Jahr ist. Samuel ist nach einiger Zeit im Westen, in den er einst floh, in seine Heimat zurückgekehrt: in das Banat. Dort sieht er seinen Vater wieder, und die Nähe, die sich einstellt, ist, siehe oben, zeitlos. Iris Wolff, aus Siebenbürgen stammende Freiburger Autorin, hätte mit ihrem Familienroman „Die Unschärfe der Welt“ (Klett-Cotta, 20 Euro) mindestens das Finale des Deutschen Buchpreises verdient gehabt. Leider schaffte sie es lediglich auf die Longlist.
In ihrem vierten Roman erzählt sie vom Schicksal der Rumäniendeutschen zwischen dem Sturz des rumänischen Königs Michael und dem Ende des Ceausescu-Regimes. Am Beispiel einer Familie, mit dem Hauptbezugspunkt Samuel. Wobei ausgerechnet niemals aus seiner Perspektive berichtet wird: ein formaler Clou der Autorin. Samuel stammt aus einem Pastorenhaushalt und flieht vor dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Rumänien nach Norddeutschland. Wie die Geschichte Schicksale bestimmt, darum geht es in diesem Buch der leisen Töne, in dem auf jeder Seite die Schönheit der Sprache zu Gehör gebracht wird. (tha)
Grishams neuer Bestseller
„Die chemische Analyse der sogenannten dichterischen Inspiration ergibt: 99 Prozent Whisky, ein Prozent Schweiß.“ William Faulkner. Hätte auch von Hemingway sein können. Oder halt von Bruce Cable, Buchhändler und zum zweiten Mal Hauptfigur in John Grishams Literaturbetriebsthrillerreihe auf der fiktiven Florida-Insel Camino Island. Dort sind sie noch so wie im Roman, die Schriftsteller, im Grunde saufen sie den ganzen Tag, und ab und an gibt’s Austern. Bruce Cable weiß das gute Leben zu schätzen (seine natürlich französische Frau, man führt eine offene Ehe, handelt mit Antiquitäten). Nachdem Bruce in „Das Original“ noch hinter gestohlenen Manuskripten von F. Scott Fitzgerald her war, beschäftigt ihn in „Das Manuskript“ (Heyne, 22 Euro) ein ermordeter Bestsellerautor, der offenbar all zu genau über Pflegeskandale recherchiert hatte.
Grisham kann Spannung (ein zerstörerischer Hurrikan bildet diesmal die Grundlage), vor Stereotypen und etwas unterkomplexen weiblichen Figuren darf man sich allerdings nicht fürchten. Dann hat man seinen Spaß an diesem Roman, der den einen oder anderen selbstironischen Seitenhieb auf Grishams eigene Branche bereithält und den man am besten so liest, wie man einen gut gekühlten Sundowner wegsüffelt. (msch)
Murakamis Favoritin
Die japanische Schriftstellerin Mieko Kawakami wird derzeit im deutschen Sprachraum entdeckt. Man könnte sagen, dass das im Zeitalter des neuen, wahrscheinlich erfolgreichen Feminismus höchste Zeit ist. Man könnte aber auch sagen, dass die literarischen Feste so gefeiert werden sollten, wie sie eben fallen. Jetzt, wo „Brüste und Eier“ (Dumont, 24 Euro), Kawakamis Erfolgsroman von 2019, auch auf Deutsch vorliegt, können wir endlich beruhigt sein. Es ist nicht allein der ewige Haruki Murakami, der uns etwas über das zeitgenössische Japan zu erzählen hat. Es gibt jetzt eine ihm ebenbürtige Frau, die selbiges tut – und die von Marukami übrigens über alle Maßen geschätzt wird.
Dieses zeitgenössische Japan ist indes zumindest in Teilen ein Land, das der abendländischen Welt entspricht – ein Land, in dem Frauen Schönheitsidealen hinterherlaufen und späte Mutterschaften anstreben. Kawakami erzählt in großen Schwüngen und behutsam von ihrer Heldin Natsuko, die als schriftstellernde Anfangdreißigerin in Tokio lebt und dort zwischen einer kreativprekären Lebenswirklichkeit, der im Hintergrund lauernden Verlustgeschichte ihrer Familie und dem Aufeinandertreffen mit Schwester und Nichte lernt, was es heißt, eine Frau im Japan der Gegenwart zu sein. Ein erstaunlich aktueller Roman, eine Entdeckung. (tha)
Eine US-Ikone
Es war eine Ikone, und mit diesem Wort muss man sparsam umgehen. Im Falle der Schriftstellerin und Bürgerrechtsaktivistin Maya Angelou (1928– 2014) war und ist der Begriff angebracht. Das Leben der Afroamerikanerin gab ein Beispiel ab für Durchsetzungswillen und Selbstermächtigung. Sie las bei der Inauguration Bill Clintons und fand Bewunderinnen wie Oprah Winfrey und Michelle Obama. Maya Angelou war eine moralische Autorität, und wie diese Frau, die ohne je studiert zu haben Hochschullehrerin wurde, wurde, wer sie war, erzählt sie in ihrem siebenteiligen Memoir, dessen erster Band „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ sie auch in Deutschland bekannt machte.
Nun kommt der zweite, im Original 1974 erschiene Band „Was für immer mir gehört“ (Suhrkamp, 16 Euro), der die Jahre 1944 bis 1948 behandelt: Furchtlose Prosa von einer furchtlosen Frau, die ihren Entwicklungsroman als eine Befreiungsgeschichte ohne viel Scheu in Szene setzt. Als junge Teenager-Mutter verließ sie die heimatlichen Südstaaten, um in Kalifornien ihren Weg zu machen. Zunächst betrieb sie tatsächlich ein Bordell. Sie ist eine mittellose Frau mit Kleinkind, da darf man vorübergehend in der Wahl der Mittel nicht zimperlich sein. Sie lebt ihr Leben mit Hauruck. Eine fesselnde Lektüre! (tha)
Die Natur, ein Gedicht
Trocken soll sie sein, die Botanik? So trocken wie die Blätter, die im Herbarium gesammelt werden? Wer’s glaubt. Das schönste naturwissenschaftliche Buch des Jahres stammt von dem Franzosen Marc Jeanson. Und warum ist es so wunderbar? Na, weil es, natürlich, gar nicht wissenschaftlich ist, sondern vor allem poetisch. Jeanson ist Leiter des größten Herbariums der Welt. Er begreift sein Muséum national d’histoire in Paris als magischen Ort. Sein gemeinsam mit der Journalistin Charlotte Fauve verfasstes, lichtes und dichtes Buch „Das Gedächtnis der Welt“ (Aufbau, 22 Euro) folgt den großen Forschungsreisenden der Botanikgeschichte, den Entdeckern und Findern, den Namensgebern – denen, die die Herbarien füllten. Tournefort, Adanson, Lamarck und andere mehr: Jeansons Erzählung folgt den Suchenden und Abenteurern. Außerdem den eigenen Spuren, denn auch er ist als Pflanzenfetischist ein Vielreisender.
„Ich glaube, man muss ein Stück weit Weltenbummler sein, um Botaniker zu werden, man muss das Gelände mögen, die Wolken, den Matsch“, schreibt Jeanson einmal. Und ein anderes mal: „Die Blätter der Mangroven werden, sobald sie Wasser berühren, zu Wurzeln, zu Rundbögen romanischer Kirchen.“ Die Natur: ein Gedicht.
Geheim, geheim
Regelrecht dankbar liest man in dieser ausgewogenen, also nie unkritischen, aber auch nie sensationsheischend raunenden Studie schon recht früh, warum dieser sagenumwobene Geheimbund denn so verschwiegen ist: Er ist halt verschwiegen um der Verschwiegenheit willen. Verschwiegenheit ist eine der Grundlagen von Exklusivität. Und exklusiv wollten die Freimaurer seit der Gründung ihrer Logen ab dem 18. Jahrhundert schon immer sein. Der britische Historiker John Dickie untersucht die Geschichte des Bundes und der Wirkung, die er auf die Welt hatte, in seinem akkurat gearbeiteten Buch „Die Freimaurer. Der mächtigste Geheimbund der Welt“ (S. Fischer, 26 Euro).
Dabei findet er nicht nur heraus, dass die Freimaurer mit ihren Netzwerken fruchtbare Strukturen für kriminelle Machenschaften boten. Dickie hebt auch hervor, wie die Unternehmung, die freilich Frauen die Mitgliedschaft seit jeher verbot, die Gestaltung moderner Gesellschaften vorantrieb. Nicht nur George Washington, der erste amerikanische Präsident, war Freimaurer. An den Verschwörungstheorien, die sich um die Freimaurer ranken, kommt Dickie dennoch nicht vorbei: Sie sind oft das Erste, was den „Profanen“ zu den Geheimbünden einfällt. Erhellend, dieses Buch. (tha)
Die Brut ist aus dem Haus
„Wir fingen irgendwann an, uns darüber Gedanken zu machen, was wohl aus uns werden würde, wenn Nick und Carla tatsächlich einmal auszögen. Ob wir dann überhaupt noch eine Existenzberechtigung haben würden.“ Tja, über das, was Jan Weiler da in „Die Ältern“ (Piper, 15 Euro) beschreibt, haben sich schon viele Väter und Mütter Gedanken gemacht, wenn der Nachwuchs irgendwann flügge zu werden „drohte“. Wie die Gefühlslage dann ist (schwankend zwischen Ich-kann-endlich-machen-was-ich-will-Euphorie und Aber-was-will-ich-eigentlich-Zweifeln), beschreibt Weiler mit wunderbar trockenem Humor.
Plötzlich wollen die lieben Kleinen nicht mehr mit in den Urlaub (okay, einmal noch, ist ja so bequem), und um gesundes Gemüse in die Mägen zu bringen, muss „das Zeug“ am Mittagstisch als „Wundernahrung aus Brooklyn, direkt aus den New Yorker Hipster-Dachgärten“ angepriesen werden. Wer Kinder im 15plus-Alter hat oder hatte, kennt das alles und freut sich über die Klappentext-Einschätzung „Man ist 49, fühlt sich wie 29 – wird aber behandelt, als sei man 79.“ Und über den praktischen Hinweis, dass sich der abgeschaltete WLAN-Router prima zur Disziplinierung des Nachwuchses eignet. Blöd nur, dass man dann auch selbst kein Internet mehr hat (hot)
Afrika in Europa
Johny Pitts stammt aus Sheffield. Er ist Europäer aus Überzeugung. Afrika ist aber der Kontinent, in dem ein Elternteil seine Wurzeln hat. Er selbst, der Journalist aus der Arbeiterstadt, wird aufgrund seiner Hautfarbe als Schwarzer gesehen. Pitts ist smart, weltgewandt, klug, kulturell interessiert. Wahrscheinlich der Idealtyp des (farbigen) Hipsters. In seinem groß angelegten, so subjektiven wie ertragreichen Reisebericht „Afropäisch“ (Suhrkamp, 26 Euro) untersucht Pitts einen Modebegriff abseits seiner Hochglanzseite. Ob in Paris, Stockholm, Moskau oder Lissabon – Pitts protokolliert mit wachem Blick die Lebensumstände und kulturellen Ausprägungen der doppelt gepolten Existenzen.
Seine weitgehende Unvoreingenommenheit lässt einen als Leser neu auf manches schauen. Etwa die Antifa-Demo in Berlin, der Pitts einigermaßen befremdet beiwohnt. Für weiße Antirassisten steht immer weniger auf dem Spiel als für schwarze, und diese Perspektive mag für weiße Leser nicht unbedingt komfortabel sein, aber erhellend. So ist dieses Buch: augenöffnend für die Widersprüche, die Verlustrechnungen und den Reichtum, der mit der afropäischen Bi-Kulturalität einhergeht. Johny Pitts erweist sich als glänzender Kommentator der Gegenwart. (tha)
Eine Frau der Peripherie
„Herkunft“, dieser Titel war schon an Saša Stanišić vergeben. Es ist auch das Thema von Mely Kiyak. „Frausein“ (Hanser, 18 Euro) heißt ihr Band, der schmal daherkommt, in dem die Tochter kurdischer Einwanderer nüchterner, aber nicht weniger wuchtig von den Einflüssen berichtet, die Herkunft, Klasse, Erziehung und, ja, auch Geschlecht auf ihre Menschwerdung haben. Die erwachende Sexualität spielt eine große Rolle, besonders eindrücklich aber schildert Kiyak die sozialen Erfahrungen, die sie vom Arbeiterkind, mehr noch: vom Gastarbeiterkind, zur Autorin werden lassen.
Mely Kiyak gelingt durch ihr schonungslos autobiografisches Schreiben eine kluge gesellschaftliche Reflexion. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ kommt einem in den Sinn, auch Kiyak ist eine scharfe, klare Analytikerin der eigenen Biografie, in der „die Verheißungen des Lebens für die anderen bestimmt sind“. Ihr Ton ist trotzdem kein verbitterter, sondern immer wieder heiter, liebevoll, anekdotisch. Nie gefällig. Kiyak bleibt bei sich und gibt auch dadurch, „von der Peripherie aus“, jenen eine eigene Stimme, die man so noch nicht lange hört. „Meine Erfahrungen machten aus Versehen aus meinem Schreiben ein politisches Schreiben.“ Ein starkes, faszinierendes, augenöffnendes Buch. (msch)
Hommage an die Kirmes
„Hool“ hieß 2016 das glänzende, harte, blutunterlaufene Debüt des Schriftstellers Philipp Winkler. Es handelte ein bisschen vom Fußball und viel von Fußballhauerei (und vom Erwachsenwerden). Jetzt hat sich der 1986 geborene und bei Hannover aufgewachsene Autor Winkler ein neues Milieu vorgenommen. Der keine 120 Seiten schmale Roman „Carnival“ (Aufbau, 14 Euro) widmet sich der Welt der Schausteller und ist gleichzeitig Abgesang und Hommage. Ein Hauch von Trauer durchzieht den Text, in dem Winkler keine Geschichte mit Dramaturgie braucht, um etwas zu erzählen. Es reicht das wortmächtig über die Brachflächen und Festplätze der Städte getriebene Defilee der Kirmes-Originale, um Leserin und Leser bei der Stange zu halten.
Da ist zum Beispiel Rompom – herkömmliche Namen trägt hier niemand –, der von seiner Mutter einfach auf der Kirmes zurückgelassen wird. Fortan wird er zum Laufburschen, ein Junge für alles; sie nehmen ihn halt auf, was sonst hätten sie machen sollen? Wären wir nicht alle eigentlich gerne mit ihnen gereist, diesen aufregenden Nomaden der Pläsier? Unser „Heißhunger auf Fettiges und Frittiertes, auf Klebriges und Plombenziehendes“ wurde nur bei den „Kirmsern“ gestillt. (tha)