Hamburg. Ein Gespräch mit Komponist Helmut Lachenmann über die Wirkung, die Bedeutung, die Entstehung und das Verklingen von Musik.

Ruhig mag es ja sein, in seinem Häuschen über dem Lago Maggiore. Doch Helmut Lachenmann, einer der wichtigsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts, kommt dennoch kaum zur Ruhe: Skype-Termine mit dem Orchester von Teodor Currentzis in St. Petersburg, der Kampf mit der schwächelnden Internet-Leitung, und die Revision seines Hörnerkonzerts „My Melodies“, das für Februar 2021 in der Planung des NDR Elbphilharmonie Orchesters steht. Heute ist der Hamburger Bachpreisträger, der hier mit der Uraufführung seiner Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ 1997 Musikgeschichte schrieb, wieder in der Stadt, als Sprecher bei einem Konzert in der Elbphilharmonie.

Wie sieht Ihr Arbeitsrhythmus aus? Sind Sie schwäbisch korrekt, von 10 bis 18 Uhr, oder Impulsschreiber, bis nichts mehr kommt?

Helmut Lachenmann: Momentan kann ich mir etwas leisten, was zuhause unmöglich wäre: Ich bin ein Nachtvogel geworden. Ich habe viel nebenbei zu tun, habe als systemirrelevanter Nichtsnutz mich auch zeitweise an der kulturpolitischen Diskussion beteiligt. Und hier in meinem Haus über dem Lago Maggiore bin ich nicht nur Komponist, sondern auch Hausmann und Selbstversorger. Spätestens ab sechs, sieben Uhr abends sitze ich in meinem Studio, dann wird’s still und in der Nacht arbeite ich glücklich, halte mich wach mit Schokolade und gehe frühmorgens schlafen.

Ist Komponieren eine so einsame Arbeit, wie es von außen aussieht – oder das Allerschönste?

Helmut Lachenmann: Komponieren ist Glück, ist Angst, ist Abenteuer, Begeisterung, Besessenheit, Einsamkeit, Nervenbelastung, Nervenbefreiung und für mich Inhalt meines Daseins. Wenn ich ins Arbeiten hineinfinde, öffnet sich das Innere plötzlich nach allen Richtungen.

Im Wort „Kompositionsauftrag“ steckt die Erwartung von Pflichterfüllung. Was, wenn das nicht hinhaut? Wie oft haben Sie Stücke abgebrochen?

Helmut Lachenmann: Nie. Inzwischen – im vorgerückten Alter – lasse ich mich auf keinen Terminzwang mehr ein. Ich brauche mehr Zeit als andere. Mit jedem Stück versuche ich, meinen kompositionspraktischen Horizont wie auch immer zu erweitern.

Und der ewige Vorwurf, dass Sie keine Musik schreiben, sondern nur Geräusche sortieren?

Helmut Lachenmann: Manche sagen zu mir, meine Musik sei interessant. Aber so ein Kompliment stößt mich ab. Ist die Mondscheinsonate oder Schumanns Träumerei „interessant“? Wenn man zu einem geliebten Menschen sagt: „Ich liebe Dich“ und die Antwort bekommt: „Interessant!“ Dann war’s das wohl. Wenn jemand sagt, was ich da mache, sei doch gar keine Musik, nehme ich das ernst, aber als Ermutigung.

… Und Sie haben 2018 eine „Marche Fatale“ komponiert, mit allem, was traditionell zu so etwas dazu gehört…

Helmut Lachenmann: … ja, und damit habe ich meinen guten schlechten Ruf ruiniert. Das war ein übermütiger Ausrutscher. Komisch ist diese Musik nicht, eher heiter. Und auch das war konzentrierte Arbeit. Übrigens: ich hasse Humor in der Kunst, finde derlei lachhaft. Im Alltag ist er, weiß Gott, unverzichtbar.

Sie wurden Ende der 1950er für zwei Jahre der einzige Schüler von Luigi Nono, einem der eigenwilligsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Was haben Sie getan oder gelassen, damit er Sie in Venedig unterrichten wollte?

Helmut Lachenmann: Mein erster Besuch bei den Darmstädter Ferienkursen 1957 und die Begegnung mit der seriellen Musik, Boulez, Stockhausen, Nono, war für mich eine schockierende Erfahrung. Aber ich spürte in der Musik von Nono eine Expressivität, die mich gepackt hat. Dort habe ich seinen „Il Canto sospeso“ gehört und studiert. Ich habe ihm geschrieben, wollte bei ihm weiter studieren. Er hat bedauert, hat mir aber konkrete Ratschläge gegeben, darunter jenen, der mich bis heute begleitet: „Schauen Sie, wie der Geist alles beherrscht.“

Und wie ging es trotzdem weiter?

Helmut Lachenmann: Darnach in Donaueschingen hörte ich seine „Varianti“ – und habe das Stück Note für Note kopiert und das Resultat aus reiner Begeisterung ihm zugeschickt, und erhielt die Antwort: Kommen Sie! Ich fand eine Wohnung im gleichen Haus, und manchmal hat er mich von einem offenen Fenster zum anderen unterrichtet. Als Lehrer war er wahnsinnig streng. Seine Frau Nuria (die Tochter von Schönberg, d. Red.) hat mir erzählt, dass er einmal beim Frühstück sagte „oggi lo distruggo“: („Heute zerstöre ich ihn“) Unser Unterricht wurde zeitweise eine Art Kampf. Er hat versucht, mir jede Art von melodischer Wendung zu verbieten: zwei Töne nebeneinander, auch noch vom selben Instrument? Das sind bürgerliche Relikte, weg damit! Und ich sagte irgendwann: Ein einzelner Harfen- oder Trompetenton ist doch auch schon ein „bürgerliches Relikt“. So lief das.

Als Sie 1972 den Hamburger Bachpreis bekamen, sagte der damalige Kultursenator Philipp Ihnen nach der Verleihung: „Wenn ich Ihre Musik vorher gekannt hätte, hätte ich Ihnen einen Zeltplatz vor der Stadt angeboten.“ Charmant...

Helmut Lachenmann: Das war hanseatischer Humor. Ich wohnte im Gästehaus des Senats an der Alster. Die Hamburger Bach-Liebhaber waren natürlich schockiert. Mein Cello-Solo-Stück „Pression“ klang nun mal nicht so schön philharmonisch, wie sie es gewohnt waren.

Welche Melodie hätten Sie gern selbst komponiert?

Helmut Lachenmann: Keine. Aber Ich verehre Ennio Morricone. Jede unserer Melodien hat ihren eigenen Zauber und ich werde doch nicht die eine gegen die andere ausspielen. Ich sage doch auch nicht: Der heutige Sonnenaufgang war schöner als der gestrige. Wir sind doch nicht bei der Stiftung Warentest!

Was macht Musik mit Ihnen?

Helmut Lachenmann: Kommt drauf an… Sie macht meinen Geist lebendig, und ich brauche Musik. Aber wenn mir in Hotels Mozarts „Kleine Nachtmusik“ zum Frühstück serviert wird, ist das widerliche Belästigung.

Was macht Ihre Musik mit Ihnen?

Helmut Lachenmann: Sie macht mich glücklich und macht mich nervös, wenn ich spüre, dass da irgendetwas nicht stimmt. Jede meiner Kompositionen erlebte ich als kreatives Abenteuer, jede hat mich ein Stück weit geöffnet, und das bleibt ein Glückserlebnis.

Also schreiben Sie eigentlich nur für sich Musik und die anderen dürfen mithören.

Helmut Lachenmann: Unsinn! Ich bewege mich beim Komponieren ja in dem von der Gesellschaft getragenen Medium Musik, schreibe für Instrumentalisten und sich versammelnde Hörer, reagiere so oder so auf unsere vertraute Rezeptionspraxis und setze mein Schaffen den Erwartungen meiner Mitmenschen aus. Jeder Komponist, indem er „für sich“ schreibt, setzt sich doch automatisch seiner Umgebung aus, die den Musik-Begriff pflegt. Meine Klänge habe ich ja weder erfunden noch gepachtet, so wenig wie Haydn den C-Dur-Dreiklang in seiner „Schöpfung“ noch Wagner denselben Klang in seinen „Meistersingern“ erfunden und gepachtet haben. Komponisten sind Parasiten. Es geht darum, das uns Vertraute ebenso wie das Unvertraute durch neuen Kontext neu - zu beleuchten. So wird Komponieren zur kreativ geladenen Einladung, unsere Ohren, unseren Geist, vielleicht gar unser Herz, unseren Horizont zu öffnen.

Schönberg hat Anfang des 20. Jahrhundert behauptet: „In 50 Jahren wird man meine Musik auf der Straße pfeifen.“ Es kam anders. Was glauben Sie, wird mit Ihrer Musik in 50 Jahren sein?

Helmut Lachenmann: Schönberg, wenn er das wirklich gesagt hat, hat sich geirrt, na und? Seine Musik wird gespielt und gehört! Ein Komponist ist kein Prophet und schon gar nicht ein Prediger, er hat keine Ahnung, was er anrichtet. Bach und Mozart konnten auch nicht ahnen, dass ihre Musik heute in Warteschleifen und Handysignalen umsatzfördernd missbraucht wird. Ein Komponist hat nichts zu sagen, sondern etwas zu schaffen. Er ist ein Medium. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Komponist je ahnen konnte. Und meine Musik in 50 Jahren? Darüber denke ich nicht nach. Vielleicht wird unsere Zivilisation, zunehmend beherrscht von Zombies à la Trump und Konsorten, im schwarzen Loch totaler Verblödung und Geistfeindlichkeit landen und egal wie lange noch irgendwie vor sich hinvegetieren. Dann gibt’s Musik nur noch zum Schunkeln.

Termine: Heute, 18.30 / 21 Uhr, Elbphilharmonie Großer Saal, SWR Sinfonieorchester, Teodor Currentzis (Dirigent), Patricia Kopatchinskaja (Violine) und H. Lachenmann als Sprecher in seinem „,… zwei Gefühle…’, Musik mit Leonardo“. Evtl. Restkarten. 24.11., 19.30 Kleiner Saal. Pierre-Laurent Aimard (Klavier) u.a. mit Kammermusik. Werke von Lachenmann und Beethoven.