Hamburg. Festival-Geschäftsführer Alexander Schulz im Gespräch über die Planungen, Regeln und Aussichten des Konzertmarathons.

An diesem Mittwoch beginnt das Reeperbahn Festival und präsentiert bis Sonnabend für 8000 Besucher 300 Konzert-, Literatur-, Film- und Konferenz-Veranstaltungen unter Corona-Auflagen. Das heißt: Mehr Streaming und begrenzte Kapazitäten im Vergleich zum Vorjahr, als 50.000 Besucher auf St. Pauli die Auswahl aus fast 1000 Programmpunkten hatten. Umso größer ist die Aufbruchstimmung, die Festival-Geschäftsführer Alexander Schulz für die ganze internationale Konzertbranche wecken möchte.

Hamburger Abendblatt: Herr Schulz, Anfang Juni teilten Sie mit, dass das Reeperbahn Festival 2020 definitiv stattfinden wird. Aber wann wussten Sie wirklich: Wir kriegen das hin?

Alexander Schulz: Eigentlich schon im Mai, als wir von Bund und Land mündliche Zusagen hatten, dass sie uns unterstützen werden. Da haben wir zum 1. Juni unsere Mitarbeiter aus der Kurzarbeit zurück geholt. Zum 1. Juli gab es eine spürbare Kurskorrektur durch die neuen Corona-Verordnungen, da war es bei uns doch sehr unruhig. Aber seit Mitte August sind wir absolut sicher: Das wird eine gute Sache.

Das Festival-Team musste viele seit 2006 etablierte Routinen über Bord werfen?

Schulz: Für mich war das nicht so ungewöhnlich. Unsere Firma organisiert ja unterschiedlichste Formate, darunter noch weitere öffentliche Veranstaltungen wie die Theaternacht oder Elbjazz, wo es immer darum ging, flexibel und ideenreich auf verschiedenste Ausschreibungen und Aufträge zu reagieren. Natürlich wurden wir noch nie in den Grundfesten durcheinander gerüttelt wie dieses Jahr, aber das bewegliche Denken war immer da.

Das Reeperbahn Festival war gerade in den ersten Jahren mit seinen hohen Verlusten dazu gezwungen, sprichwörtlich Gras zu fressen und beweglich zu denken.

Schulz: Es ist schon bezeichnend, dass die Zahlen für das Reeperbahn Festival 2020 wieder in etwa denen der Premiere vor 15 Jahren entsprechen: 120 Konzerte, 8000 erwartete Gäste, 20 Spielstätten und wir spielen erstmals seitdem wieder von der großen Bühne auf dem Spielbudenplatz. Zurück auf Los! (lacht)

Weltweit ist der Tourbetrieb und damit das Auskommen für viele Newcomerbands und neue Talente, die das Reeperbahn Festival ausmachen, zum Erliegen gekommen.

Schulz: Die Hälfte des diesjährigen Konzert-Programms kommt aus dem deutschsprachigen Raum, die andere Hälfte aus Kontinentaleuropa. Wir können in diesem Musikjahr entsprechend weite Teile unserer Popwelt nicht physisch präsentieren. Aber dafür haben jetzt Künstlerinnen und Künstler, von denen die meisten mindestens zwei Shows spielen, eine erhöhte Aufmerksamkeit, die sie vielleicht in den Vorjahren nicht gehabt hätten. Qualitativ mussten wir keine Rückschritte machen.

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Was sind die drei großen Stichworte für das diesjährige Festival?

Schulz: Pandemiegerecht. Durch die Auflagen und Maßnahmen, die das Präsenz-Programm des Festivals bestimmen. Multimedial. Durch unsere Streamingkanäle und digitalen Fachbesucher-Konferenz-Angebote. Und vielleicht Leuchtturm. Wir wollen Orientierung bieten und ein Zeichen zum Aufbruch setzen in unruhiger See, indem wir zeigen, was möglich ist bis ein Impfstoff kommt.

Was haben die monatelangen pandemiegerechten Planungen ergeben? Worauf muss sich das Publikum einstellen?

Schulz: Wir bespielen 20 Bühnen, fünf davon unter freiem Himmel. Das größte Areal mit einer Riesenbühne auf dem Heiligengeistfeld erlaubt bis zu 850 Gäste. Alle Konzerte sind bestuhlt. In den Clubs, wie Mojo Club oder Molotow haben wir die Betreiber gefragt, wie sie sich die Umsetzung vorstellen und die jeweils individuellen Durchführungskonzepte nach und nach gemeinsam verfeinert. Nochtspeicher und Knust waren schon sehr früh mit eigenen Ideen aufgestellt.

Die Beobachtung der Besucherströme mit einem Chip-Armband wurde aber wieder verworfen?

Schulz: Die Datenschutzbeauftragten haben sich das anders gewünscht. Es ist jetzt ähnlich wie bei einem Restaurantbesuch: Jeder Spielort ist mit einem Code ausgestattet, wo sich die Gäste beim Kommen und Gehen in Verbindung mit ihrem Ticket registrieren. Die Daten bleiben unter Verschluss. Im Infektionsfall haben Datenschutzbeauftragte und Gesundheitsamt Zugriff und können so nur alle Kontaktpersonen benachrichtigen.

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    Das Wechseln von Club zu Club, das Anstehen vor den Eingängen und die Einlass-Stopps konnten das Reeperbahn Festival auch anstrengend machen. Kann man das dieses Jahr besser steuern?

    Schulz: Nicht wirklich. Nur über die App können wir Tipps geben. Von Vorreservierungen und ähnlichen Ideen haben wir uns schnell verabschiedet, weil der Festivalbesuch dafür auch unter Corona-Auflagen von spontanen Ideen und Mundpropaganda abhängt. Neu ist, dass nach Konzertbeginn kein Nacheinlass mehr stattfindet, auch nicht wenn der Club sich im Laufe eines Konzertes leeren sollte. Darunter leidet natürlich das „Ich schau mal drei Songs lang, wie das so ist“-Clubhopping, was das Festival immer so unverbindlich und abenteuerlich gemacht hat. Aber wir hätten sonst während der Konzerte frei gewordene Plätze reinigen und desinfizieren müssen.

    Seit einigen Monaten sind wieder Konzerte erlaubt gewesen, zum Beispiel im Stadtpark, Planten un Blomen, auf dem Lattenplatz oder in Steinwerder. Waren Sie bereits auf einem pandemiegerechten Konzert?

    Schulz: Bislang war ich nur am vergangenen Sonnabend in einer Theatervorstellung im Schmidt. Ich bin also genau so neugierig wie viele der Gäste. Nicht nur neugierig, wirklich gierig. Ich bin völlig ausgetrocknet. Ich will Livemusik, laut, durch Mark und Bein.

    Mit einigen Ausnahmen ist die Ticketnachfrage für Konzerte bislang noch überschaubar gewesen. Wie ist denn der Vorverkauf für das Reeperbahn Festival gelaufen?

    Schulz: Wir halten an jedem Tag eine Kapazität für 2000 bis 2300 Tickets vor. Für Freitag und Sonnabend sind fast alle vergriffen, für Mittwoch und Donnerstag gibt es noch ein paar Hundert. Es gibt allgemein noch eine verständliche große Zurückhaltung nach Monaten des sozialen Abstandhaltens. Ähnlich wie bei öffentlichen Verkehrsmitteln müssen die Menschen trotz des immer vorhandenen Gefahrenpotenzials wieder Vertrauen gewinnen. Wir wollen sie wieder an das Erlebnis Konzert oder Theater heranführen, auch in geschlossenen Räumen.

    Es ist kein Geheimnis, dass das Reeperbahn Festival aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein Desaster wird. Welche zusätzlichen Mittel gab es vom Bund und der Stadt?

    Schulz: Wir haben für die Kernveranstaltung zusätzlich 500.000 Euro von der Stadt bekommen und 800.000 Euro vom Bund bei einem Gesamtetat von 2,5 Millionen Euro. Wir sind also zu 75 Prozent subventioniert. Ohne diese Zusage wären wir jetzt in Kurzarbeit und würden nicht über das Reeperbahn Festival sprechen.

    Infos und Karten:

    • Tickets gibt es ausschließlich im Vorverkauf und nur noch für einzelne Tage zu 45 Euro bis 65 Euro. Karten, Programm und alle In­formationen zu den geltenden Hygieneregeln finden sich unter www.reeperbahnfestival.com

    Die über 100 Clubs in Hamburg haben nahezu alle längst keine Reserven mehr und sind von der finanziellen Beatmung der Stadt abhängig. Die Clubs, die am Festival teilnehmen, bekommen das ja finanziell ausgeglichen, aber nach dem Festival sieht es noch auf Monate düster aus mit Livemusik. Fürchten Sie um die Zukunft der Hamburger Clubszene?

    Schulz: Ja. Ich fürchte um die ganze Kulturform der live gespielten Musik. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu Sorge zu tragen, dass diese Kunstform nicht sukzessive in Vergessenheit gerät. Das Reeperbahn Festival mag für die beteiligten Clubs wirtschaftlich gut ausgehen, aber ab dem 20. September ist es unter den derzeitigen medizinisch vernünftigen Auflagen wirtschaftlich unmöglich, ohne Unterstützung an Clubbetrieb zu denken. Wir werben mit diesem Reeperbahn Festival auch dafür, dass die öffentliche Hand sich nun sehr zeitnah und verbindlich erklärt, die bei der Wiederaufnahme des Spielbetriebs tatsächlich entstehenden Wertschöpfungslücken solange zu kompensieren, bis die Pandemie überwunden ist. Hilfspakete oder Programme für neue Projekte, wie „Neustart Kultur“ nützen da wenig. Ziel muss es sein, dass die Konzert- und Tourneeveranstalter, die Künstler, die Spielorte, Bühnenbauer, Beleuchter, die ganzen soloselbstständigen Menschen, die für diese Erlebnisse hart arbeiten wollen, genau das wieder dürfen und auskömmlich können. Aber wenn wir die Kiste in irgendeinem Bundesland behutsam wieder ins Laufen bekommen, dann in Hamburg, weil wir hier Entscheidungsträger finden, die das verstanden haben.

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    Was nehmen Sie schon jetzt mit für das Reeperbahn Festival 2021?

    Schulz: Wir waren als Team und als Teil der Popszene dazu gezwungen, uns in vielerlei Hinsicht und immer wieder sehr kurzfristig neu aufzustellen, gerade was den digitalen Bereich betrifft. Wir sind jetzt schon fast zu einem Medienunternehmen mutiert. Aber ohne physische Begegnung geht es nicht, nicht ohne Bands und Fans sowie Fachpublikum, Wirtschaft und Politik, das Quatschen, das Knistern. Das funktioniert wirklich gut, wenn auch mit Abstand, nur vor Ort.

    Oder wie eine alte Fußballer-Weisheit sagt…

    Schulz: … entscheidend is’ auf’m Platz.