Hamburg. Humorist, Kommentator, Streithansel und Informant: Moderator bündelt interessanteste Tweets in seinem neuen Buch.

2,2 Millionen Follower hat Jan Böhmermann („Neo Magazin Royal“) auf Twitter. So etwas nennt man Reichweite. Twitter ist im Vergleich zu Netzwerken wie Facebook und Insta­gram zwar klein. Aber Twitter sei, so schreibt der Moderator und Satiriker im Vorwort seines nun erscheinenden Buches „Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009–2020“, „das Plenum für die, die das Sagen haben oder gerne hätten“.

Womit der 1981 in Bremen geborene das allgemeine Empfinden bestätigt, das jene Entscheider-Plattform besonders all jene anzieht, die in allen Schattierungen zwischen „erträglich“ und „unerträglich“ ihre Dauer-Sendungsbereitschaft in Nachrichten von 280 (früher: 140) Zeichen umzuwandeln mehr als nur bereit sind. Am 16.9.2009, vier Tage vor Barack Obamas Inauguration, setzte Böhmermann, der sich in der Folge zu einem der vor komischsten, aber auch (mindestens aus Sicht der sich links verstehenden Internetgemeinde) moralischsten Twitternutzer entwickeln sollte, seinen ersten Tweet ab: „Hunger“.

Jan Böhmermann veröffentlichte in zehn Jahren 25.800 Tweets, Replys und Retweets

Wie bei vielen guten Tweets war diese Premiere mehrdeutig. Es wird nicht allein um körperliche Bedürfnisse gegangen sein, sondern auch um den Appetit auf diskursive Öffentlichkeit. Nun denn: Knapp ein Jahrzehnt später, Stichtag 29. Februar 2020, hat der sich stetig online selbst erklärende Bannerträger der Humanität Böhmermann 25.800 Tweets, Replys und Retweets veröffentlicht.

Sie sind im Zuge dieser Buchveröffentlichung alle gelöscht worden. Hunderte von ihnen – eine „repräsentative Auswahl“, heißt es in der Begleitinfo im Buch – sind nun in diesem in Leinen gebundenen Gedächtnis versammelt, sie zeigen Böhmermann als Humoristen, Kommentator, Streithansel und Informanten. Letzteres für alle, die wissen wollten, was die Welt wirklich bewegt. Wobei das ja ohnehin immer klar ist: Schneller als Twitter ist kein anderer Mediendienst. So wie Twitter ein vergängliches Zeugnis des Tagesgeschehens ist, ist dieses Buch das Kompendium eines Jahrzehnts.

Große und kleine Ereignisse des Weltgeschehens

Große und kleine Ereignisse des Weltgeschehens, des Internetlebens und des wirklichen (was manchmal ja dasselbe ist), spiegeln sich in Nachrichten, die meist voller Witz oder wenigstens voller Ironie sind. Das ist viel besser als ressentimentgetriebener Hass, der auf Twitter allgegenwärtig ist; aber Böhmermann wäre wohl der Letzte, der die Besserwisserei, neben dem Hass die zweite große Twitter-Krankheit, weit von sich wiese.

Jan Böhmermann: „Gefolgt von  niemandem,  dem du folgst, Twitter- Tagebuch 2009–2020“, Kiwi, 461 Seiten,  22 Euro
Jan Böhmermann: „Gefolgt von niemandem, dem du folgst, Twitter- Tagebuch 2009–2020“, Kiwi, 461 Seiten, 22 Euro © Unbekannt | Kiepenheuer&Witsch

Wenn man es so wie er macht, der auf Twitter mitunter auch peinlich ist, ist die Besserwisserei aber akzeptabel. Natürlich erinnert man beim Durchblättern des Buchs nicht eine einzige Nachricht (vielleicht der Hauptgrund für die Veröffentlichung als Buch?), denn wer merkt sich schon das Twitter-Dampfgeplauder? Aber ein amüsierter Seufzer angesichts von Spott und Dollerei entfährt einem auf jeder Seite. 26. Februar 2013, 10.13 Uhr: „Midlife-Crisis für Medienfuzzis: Fuck, ich bin schon länger Teil der werberelevanten Zielgruppe, als ich es noch sein werde!“

23. Januar 2014, 21.29 Uhr: „80.000 Fernsehzuschauer wollen also Markus Lanz nicht sehen. Kopf hoch, Markus, mich wollen 80,5 Millionen Zuschauer nicht sehen.“ 26. Januar 2018, 10.48 Uhr: „Hoffentlich werde ich nicht auch eines Tages ein alter weißer Mann.“ 15. Juni 2018, 13.10 Uhr: „Was hier gerade passiert, ist ein sogenannter FUNSTORM.“ 12. Juni 2019, 13.00 Uhr: „Wer diesen Tweet liked oder retweeted, bekommt Probleme bei der Einreise in die Türkei (ggf. Knast).“ Usw. usf.: Was man halt so schreibt, wenn man millionenfach geprüfter Spaßmacher und, zum Beispiel, Erdogan-Verächter ist.

Er habe sich, erklärte Böhmermann in einem Interview mit der „SZ“, angesichts dieses echten, dinglichen Buchs gefreut, „die letzten elf Jahre endlich anfassen zu können“. Der Timeline und Vergesslichkeit des Internets sind seine Online-Aktivitäten nun entrissen. Nennen wir diese durchaus mit Böhmermann selbst „literarisches Theater“.