Hitzacker. Bei den Sommerlichen Musiktagen erinnern feucht glänzende Cellistinnenwangen daran, wie berührend Musik sein kann – gerade jetzt.

Eine einzelne Flöte, sonst nichts. Leise Wehmut weht in den Raum, gepaart mit der schwebenden Eleganz einer Nymphe. Clara Andrada de la Calle verzaubert ihr Publikum drei Minuten lang, ganz so, wie es Claude Debussy in seinem Stück „Syrinx“ angelegt hat. Wenig später streicht und tupft die Cellistin Tanja Tetzlaff knappe Gesten von Anton Webern. Hier ein gehauchtes Flageolett, da die Andeutung eines Motivs, skizziert von Tetzlaff und der Pianistin Tamara Stefanovich.

Ganz behutsam, mit zarten Klängen, gespielt auf wenigen Instrumenten, pirschen die Sommerlichen Musiktage Hitzacker ins Bewusstsein. Als müssten sich die Töne erst aus der langen Zwangsstille heraustasten und die Hörerinnen und Hörer vorsichtig aus einem schlechten Traum aufwecken: So begann das Eröffnungskonzert des ältesten Kammermusikfestivals in Deutschland.

Dass die „Sommerlichen“ im August 2020 überhaupt stattfinden und ihr 75. Jubiläum feiern können, halte er für ein Wunder, hat Christian Strehk, der Vorsitzende des Trägervereins, in seiner Begrüßung gesagt und damit kaum übertrieben. Wer hätte vor ein paar Monaten ernsthaft an ein Festival mit Publikum geglaubt? Außer Oliver Wille, dem Intendanten und unermüdlichen Kämpfer für die Sache?

Natürlich musste Wille Teile des Programms und einige Abläufe coronabedingt umstellen, um das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten. Abgesehen vom gewohnten Standardprogramm – Maske tragen, Hände desinfizieren und Abstand wahren – ist die Raumordnung im Konzertsaal Verdo das wahrscheinlich wichtigste Element.

Konzept "Nähe durch Abstand" erzeugt tatsächlich Intimität

Die Stuhlpaare sind, mit viel Luft dazwischen, rund um eine imaginäre Bühne angeordnet, statt der sonst bis zu 680 sitzen lediglich 150 Menschen im Saal. Aber diese Reduktion birgt nicht nur Nachteile.

„Nähe durch Abstand“ nennt Wille sein Konzept, das tatsächlich eine besondere Intimität erzeugt. Weil die Interpreten jetzt nicht erhöht, sondern ebenerdig etwa in der Mitte des Raums spielen, kann man ihnen in die Noten schauen und jede Regung nachvollziehen. Wenn die Klarinettistin Sharon Kameinen Einsatz gibt, indem sie die rechte Augenbraue hebt – oder Tanja Tetzlaff sich so von der Musik berühren lässt, dass die Wangen feucht zu glänzen scheinen.

Diese besondere Intensität des Erlebens, das Bewusstsein dafür, wie kostbar die reale Begegnung im Konzert sein kann, ist auf beiden Seiten zu spüren. Das Publikum lauscht hochkonzentriert und saugt die Klänge förmlich mit den Ohren auf. Ideale Bedingungen für die filigranen, kurzen Sätze, mit denen das Konzert beginnt.

Aber auch für das komplexe Hauptwerk des einstündigen Programms, Arnold Schönbergs „Pierrot
lunaire“. Ein Melodram für Sprecher(in) und Kammerensemble, in dem der Pierrot – eine Art trauriger Clown – vom Künstlerleben, von Liebe, Sex und Gewalt, von Verzweiflung und Frieden fantasiert. In einer überdrehten, manchmal auch etwas durchgeknallten Sprache, wie unter Drogen gesetzt oder von Albträumen geplagt.

Dramaturgische Pointen, wie man sie bei anderen Festivals selten erlebt

Mit Sarah Maria Sun hat die Aufführung ein charismatisches Ausdrucks- und Energiezentrum. Die Sopranistin interpretiert Schönbergs Deklamationsstil – im Grenzbereich zwischen Singen und Sprechen – mit genau der flackernden Sinnlichkeit, die das bahnbrechende Stück von 1912 verströmt. Suns farbstrotzender Vortrag, der symbolsatte Text und das atonale Geflecht der In-strumente: All das konfrontiert die Besucher mit einer hohen Ereignisdichte, das ist alles andere als leicht zu fassen, zumal die Verstärkung der Vokalstimme im ersten Konzert noch nicht optimal funktioniert. Aber diese Fülle an Eindrücken ist den Festivalgästen nur recht.

Wer zu den Sommerlichen Musiktagen nach Hitzacker kommt, will schließlich nicht nett berieselt, sondern angeregt, inspiriert und gern auch herausgefordert werden. Oliver Wille kennt und schätzt die Neugier seiner Gäste – und setzt auch in diesem Jahr wieder dramaturgische Pointen, wie man sie bei anderen Festivals selten erlebt. Besonders packend: der Dialog zwischen Beethoven und zeitgenössischer Percussion im Abendprogramm des Eröffnungstags, mit Oliver Willes Kuss Quartett und dem brillanten Schlagwerker Johannes Fischer, rechts hinten im Saal platziert.

Beethovens Quartettsätze und Fischers Rhythmen erklingen zunächst nacheinander, im Wechsel aus Streicherkammermusik und hochvirtuoser Finger- und Silbenakrobatik, beim Stück „Le corps à corps“ von Georges Aperghis.

Doch allmählich nähern sich die beiden Welten an und reagieren aufeinander, etwa als Fischer einen mechanischen Puls von Beethoven in einen tickenden Groove überführt. Die beiden Ebenen verzahnen sich immer enger, bis das Schlagzeug im Scherzo eines späten Quartetts plötzlich hart dazwischengrätscht. Krass! Ein schöner Schock, der Beethovens eigene Lust am Kontrast aufgreift und zuspitzt. Und nicht zum letzten Mal. Mehrfach unterbricht Fischer den Satz mit perkussiven Breaks. Lauter kleine musikalische Stromschläge. Da stehen die Nackenhaare steil.

Genau solche Momente prägen den besonderen Geist von Hitzacker und demonstrieren, warum das älteste deutsche Kammermusikfestival auch nach
75 Jahren noch immer zu den jüngsten gehört.

Alle Infos zum Festival unter: www.musiktage-hitzacker.de