Hamburg. Kameras statt Publikum: NDR-Orchester, Alan Gilbert und Igor Levit gaben vor fast leeren Rängen Konzert zum Saisonfinale.

Das Irre, so als einer der ersten Eindrücke: Der Geruch im Großen Saal ist wie immer. Genauer gesagt: wie früher. Freitagabend, kurz vor 20 Uhr, eigentlich Hauptpublikumsverkehrszeit vor und im Großen Saal der Elbphilharmonie. Jetzt aber nur gähnende, schmerzhafte Stille. Die Foyers sind leer gefegt, wie die Hauptstraße von Hadleyville im Western-Klassiker „High Noon“, wenn alle braven Bürger ängstlich auf die Ankunft der Schurken warten. Als wäre die Uhr in die Zeit vor der Eröffnung zurückgestellt worden, zurück auf die Betriebseinstellungen.

Die ganze Elbphilharmonie ist verwaist. Die ganze? Nein. In Block K, im akustisch und perspektivisch angenehmsten Mittelgebirge der leeren Ränge, sitzen anderthalb Dutzend Menschen – einige wenige Journalisten, dazu NDR-Mitarbeiter – auf die ersten Töne vom letzten NDR-Konzert dieser Saison, die keine sein konnte. Die Stimmung: leicht verwirrt, gedämpft, wie örtlich betäubt, weil es gleich ein bisschen weh tun wird. Ein bisschen Plaudern noch gegen und über das Sonderbare. Es fehlt was. Ach, es fehlt so viel, so lange schon, nicht nur die restlichen 2054 Menschen. Wenn man nach 18 Wochen ohne Konzertabende hier diesen herzamputierten Raum wieder betreten kann und darf, mit einer Mischung aus Wiederhörensfreude und Entsetzen, ist das unter diesen Umständen nicht schön, obwohl es auch schön ist und auch tröstend.

Orchester ab, Kameras aus. Sehr salzarm, das Ganze

Denn die Musik ist ja noch da, ganz real, hörbar. Andere Werke, mit weniger Menschen, aktiv wie passiv. Sie klingt aber anders, weil sie anders wirkt und anders entsteht. Und auch die Erinnerungen werden wieder wach, als wäre das alles, was hier jahrelang zu hören war, erst gestern passiert. Eigentlich hätte NDR-Chefdirigent Alan Gilbert mit Makoto Ozone als Solist Gershwins „Rhapsody in Blue“ dirigieren sollen. Hübsche Kombi, denn Ozone muss man nicht erst vorbuchstabieren, was Blue Notes sind.

Jetzt aber: Schostakowitschs 1. Klavierkonzert, das mit der immer wieder frech dazwischengrätschenden Solo-Trompete (gekonnt: Pedro Miguel Freire) als Sparrings-Partner für den Pianisten, kleiner, aber auch fein, und mit Igor Levit als Einspringer de luxe so prominent besetzt, dass ARTE Concert das Ganze live streamte. Umrahmt von einer sympathisch krausen Kammersinfonie des Briten Thomas Adès und Beethoven Vier. Beide Sinfoniechen sind ab Werk sparsam besetzt und selbst jetzt unter strammen Corona-Auflagen gut spielbar. Obwohl: Spielbar ist durchaus relativ.

Orchester hat sich mentale Notwehr antrainiert

Nach einigen Aufzeichnungs-Runden im publikumsleeren Raum hat sich das Orchester eine Art mentale Notwehr antrainiert. Man kommt in der üblichen Arbeitskleidung, begrüßt sich routiniert, nun am Ellenbogen. Genau jetzt wäre der Moment, in dem 2073 Menschen applaudieren würden und danach zuhören. Die Stille dann wäre eine andere als die Stille jetzt. Doch sobald die ersten lang vermissten Schallwellen einen nach vorn an die Sitzkante ziehen, um dort etwas schneller alles mitzubekommen, zeigen sich die Lücken.

Die in normaleren Zeiten geäußerte Behauptung, der Saal klänge leer quasi genauso wie mit Menschen in allen Spezialsitzen lässt sich nun nicht ganz bestätigen, weil die Sicherheits-Abstände so extrem und so problematisch sind für die Klang-Choreographie. Einerseits fächert sich der Gesamteindruck noch klarer auf, andererseits, bereits beim Adès mit seiner Mixtur aus Jazz-Andeutungen und Avantgarade-Aroma, aber noch mehr bei der Beethoven-Sinfonie ist die Innenbalance heikel. Manches geht so gerade eben noch zusammen und wirkt eher wie eine letzte Probe, nicht schon wie Konzert. Doch das sind letztlich nur Petitessen, gemessen an der Schönheit des Vorgangs an sich, an der Sehnsucht nach mehr, größer, weiter. Und auch verglichen mit der Mühe, die es braucht, sich als Klangkörper nicht durch die Umstände herunterziehen zu lassen.

Levit wirkt leicht unterinvolviert

Also wird wacker auf Sicht gespielt. Gilbert kann die Großrepertoire-Gesten für Ü-80-Repertoire stecken lassen, es gelten Kammermusik-Vorfahrtregeln, allerdings auf sehr großer Bühne. Vor allem aber wird trotz alledem gespielt. Levit wirkt leicht unterinvolviert, macht aber aus seinem Part eine funkelnde große Geläufigkeits-Etüde mit Witz und Biss, im langsamen Satz perlen die Grüblereien. Und obwohl danach Beethovens Vierte so gern als launiges Mittelschwergewicht zwischen zwei epochalen Sinfonien abgetan wird, melden sich sofort die Dringlichkeit und die Aktualität dieser 214 Jahre jungen Musik. Satisfaktionsfähig fühlt sich dieses Konzert aber dennoch nicht an. Es ist jetzt nicht die Zeit für große Stilkritik, während alles so viel besser ist als das elende Nichts.

Schüttere, eingeschüchterte Applaus-Momente tröpfeln nach den Beethoven-Schlussakkorden ins Parkett, die schnell im stumm bleibenden Saal verpuffen. Orchester ab, Kameras aus. Sehr salzarm, das Ganze. Dann gehen wir mal wieder, sagt man sich danach in K Mitte, was bleibt auch sonst. Im Fahrstuhl nach draußen bietet ein freundlicher Plaza-Servicemitarbeiter eines der letzten Brötchen des Abends aus dem Café an, bevor hier – zwei Stunden früher als früher – Feierabend ist für heute. Nach dem Konzert im Großen Saal ist nun wieder vor dem Konzert im Großen Saal. Was immer das heißt, wann immer das ist.

Das Konzert ist bis 23.9. auf www.elbphilharmonie und bis 24.9. auf www.arte.tv abrufbar.