Hamburg. Hamburgs Ballettchef lobt die Kanzlerin und entwickelt eine neue Corona-Choreografie. Sie ist Teil des Balletts „Ghost Light“.

Der Weg in den Probensaal führt vorbei an Sprühflaschen mit Desinfektionsmitteln. Neue Normalität auch im Alltag der Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts. Aber immerhin: Während der Vorhang in der Staatsoper geschlossen ist, wird im Ballettzentrum seit Ende April hart gearbeitet – mit gebotenem Abstand natürlich. Ballettchef John Neumeier hat zunächst mit Trainings und schließlich auch mit den Proben für ein neues Stück begonnen – in Kleingruppen von zwei bis acht Tänzern.

Das Abstandsgebot ist dabei nicht nur Vorgabe, sondern Strukturprinzip der neuen Kreation, die die Tanzenden auf Distanz hält. Die Einzigen, die einander berühren dürfen, sind Paare, von denen es in der Compagnie zum Glück einige gibt.

John Neumeier über Ballett in Zeiten des Coronavirus

Auf der bis auf einen Stuhl und eine graue Wand leeren Bühne führen Yun-Su Park und Lizhong Wang einen schwierigen Pas de deux aus. Wang nimmt eine Drehung um Park herum vor, die sich in voller Länge auf seinem Körper ablegt. Ein intensives Bild zu einem Impromptu von Franz Schubert. Klaviermusik ganz pur. John Neumeier sitzt am Bühnenrand und kommentiert, erinnert beide daran, in Verbindung zu bleiben. Die Atmosphäre ist hochkonzentriert. Dann ist das nächste Paar dran.

Borja Bermudez trägt Hayley Page auf seiner Schulter, während ihre Beine unablässig in Bewegung sind – oder sein sollten. Wieder und wieder wird die Szene geprobt. Das Stück, das hier entsteht, ist noch im Frühstadium, aber dass hier überhaupt wieder geprobt wird, ist ein kleines Wunder. Wie es dazu kam, erläutert John Neumeier im Gespräch.

Die Theater sind in Hamburg jenseits von Streamings bis auf wenige Ausnahmen unter freiem Himmel noch zum Schweigen verdammt und proben in Kleinstbesetzungen. Mit welchen Gedanken haben Sie vor sechs Wochen das Training beim Hamburg Ballett wieder aufgenommen?

John Neumeier Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die nicht vorstellbar war. Die Stille am Anfang war sehr frus­trierend. Ich habe mir die Frage gestellt, wie schützt man die kleine Flamme der Kreativität? Für Tänzer ist die eigene Person das Instrument. Wie kann dieses Instrument spielbar und weich bleiben? Ein Lehrer der Schule hatte die Idee der Zoom-Klassen. Irgendwann habe ich aber dafür gekämpft, dass wir unsere Säle öffnen. Jeder Saal in diesem Schumacher-Bau hat Fenster auf beiden Seiten, sodass ein ständiger Luftaustausch herrscht. Aus den 60 Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie haben wir dann zehn Klassen gebildet.

Warum genügte das Training irgendwann nicht mehr, sodass Sie mit einer neuen Kreation begonnen haben?

Nach zwei Wochen dachte ich, das Wesentliche fehlt. Tänzer sind nicht wie Sportler. Sie versuchen nicht, so schnell wie möglich von A nach B zu kommen, sondern Inhalte deutlich zu machen und Emotionen eine Form zu geben. Das muss auch geübt werden. Wir können das Repertoire derzeit nicht proben. Ursprünglich wollte ich die 9. Symphonie von Beethoven beginnen, aber das ist ohne die Freiheit, einander anzufassen, nicht umsetzbar. Ich liebe die Klaviermusik von Schubert, besonders die „Moments Musicaux“ und die „Impromptus“. Und so habe ich von einem Tag auf den anderen spontan beschlossen, dazu ein Ballett zu kreieren und alle 60 Tänzerinnen und Tänzer einzubinden.

Bei den Proben zu John Neumeiers neuer Choreografie „Ghost Light“ ist sehr viel Platz. Der Ballettchef hat das geltende Abstandsgebot zum Strukturprinzip erhoben.
Bei den Proben zu John Neumeiers neuer Choreografie „Ghost Light“ ist sehr viel Platz. Der Ballettchef hat das geltende Abstandsgebot zum Strukturprinzip erhoben. © Kiran West | Kiran West

Das neue Ballett trägt nun den Titel „Ghost Light“. Der Begriff stammt aus der amerikanischen Tradition. Welche Bedeutung hat er?

Dieses Licht brennt derzeit in allen Theatern am New Yorker Broadway. Eigentlich ist es eine ziemlich hässliche Eisenstange mit einer nackten Birne daran, die die Bühnenarbeiter am Ende einer Probe errichten als Zeichen, dass die Bühne wegen Gewerkschaftsauflagen nicht benutzt werden darf. Nicht besonders schön und trotzdem liegt eine gewisse Poesie darin. Das Licht erzählt von einem schattenhaften Reich aus Vergangenheit und möglicher Zukunft. Es brennt die ganze Nacht bis das Leben wiederkommt. Und das hat etwas mit unserer Situation zu tun.

Wie soll aus den Einzelstimmen in „Ghost Light“ irgendwann ein getanzter Chor werden?

Es ist als würde ich eine Symphonie mit einzelnen Stimmen schreiben, bei der ich zusammendenken muss, wie es klingen könnte. Wie genau, werde ich wahrscheinlich erst in der kommenden Spielzeit wissen. Wir arbeiten sehr langsam, wie ein experimentelles Theater. Es geht um die Aussage des einzelnen Körpers in dem Moment. Mich hält es irgendwie jung. Alles Äußerliche ist weggefallen aber ich habe das Wertvollste und das ist dieses Ensemble, das den Wunsch hat, zu kreieren. „Ghost Light“ ist ein bisschen wie ein japanisches Essen, wo man lauter kleine Dinge bekommt, die wunderschön anzuschauen sind, aber scheinbar nicht so viel miteinander zu tun haben. Eine innere menschliche Spannung spürt man trotzdem.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts haben ja acht Wochen lang zu Hause trainiert. Das stelle ich mir schon räumlich schwierig vor.

Unbedingt, und das galt auch für die Schülerinnen und Schüler der Ballettschule. Man muss sich vorstellen, wir haben eine Abschlussklasse, deren Teilnehmer zum großen Teil in Japan, China, Brasilien leben und die natürlich alle nach Hause gefahren sind. Obwohl das Training zu einer bestimmten Tageszeit angeboten wurde, haben sie alle zur selben Zeit mitgemacht. Wie diese jungen Menschen in ihrer Küche oder in ihrem Schlafzimmer trainieren, das ist schon sehr bewegend.

Wie haben Sie sich selbst und die Abläufe organisiert?

Es gibt einen sehr komplexen Plan. Es war wichtig aus welcher Garderobe jeder Tänzer kam, sodass man Trainingsgruppen nach Garderoben organisiert hat. Man darf nur durch eine Tür kommen, wäscht die Hände, geht in die Garderobe, wo nie mehr als zwei Menschen sein sollen, dann geht man zum Ballettsaal und anschließend ohne Dusche direkt durch eine andere Tür nach Hause. Das ist schon sehr nervig.

Vom Hamburg Ballett existiert ja eine Kollektion sehr professionell in Szene gesetzter Verfilmungen des Repertoires. Ist ein ausschließlich für den digitalen Raum geschaffenes Ballett für Sie vorstellbar?

Nein. Ich selbst habe keine einzige Ballett-Aufführung im Internet geschaut. Ich stehe für die Live-Aufführung, die Spontaneität, die emotionale Projektion, die dabei stattfindet. Auch auf die Gefahr hin und die Tatsache, dass zwei Aufführungen nie gleich aussehen. Das sind Dinge, die für mich wichtig sind.

Hamburg hat ja nun einen neuen Senat. In dem Koalitionsvertrag von SPD und Grünen ist von dem Ansinnen die Rede, die Sammlung John Neumeier in der HafenCity anzusiedeln. Können Sie sagen, wie konkret diese Pläne sind?

Das John-Neumeier-Magazin des Abendblatts gibt es für 9 Euro (Treuepreis 7 Euro) unter abendblatt.de/magazine
Das John-Neumeier-Magazin des Abendblatts gibt es für 9 Euro (Treuepreis 7 Euro) unter abendblatt.de/magazine © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Sie sind schon sehr konkret. Geplant ist, die gesamte Sammlung und das Archiv als Teil eines großen Gebäudes mit Ausstellungsräumen, einer Bibliothek und meinen eigenen Arbeitsmaterialien zu verbinden. Schön wäre es, wenn die Universität sich beteiligt. Das ist ein großes Projekt, aber sehr aufregend.

Wann und unter welchen Umständen halten Sie eine Ballett-Vorstellung in Hamburg wieder für möglich?

Die Premiere von „Ghost Light“ ist in Hamburg für den 6. September angesetzt. Wir wissen aber nicht, wie viele Menschen im Zuschauerraum sein werden. Ich finde, Hamburg hat die Krise bislang toll gemeistert. Ich bin auch ein Fan von Angela Merkel, was das betrifft. Vor allem wenn man Deutschland mit meinem Heimatland Amerika vergleicht.