Hamburg. Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda will „Offenheit bewahren – aber auch Vorsicht“. Die Kunst soll stattfinden, zur Not unprofitabel

In der Kulturbehörde lässt man die Kunst ganz nah an sich heran: Der Pressesprecher hat den Kampnagel-Mundschutz dabei, Kultursenator Carsten Brosda wurde vom Thalia Theater versorgt: „Wir kennen uns vom Sehen“ steht auf seiner neuen Maske. Ein spielerischer Umgang mit einer nach wie vor sehr ernsten Situation. Die Kultur war und ist in der Coronakrise besonders hart getroffen, durch erste Lockerungen (Museen, Kinos, Freilufttheater) tastet man sich wieder an eine analoge Öffentlichkeit. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Als Sie zum Beginn der Coronazeit über die angelaufenen finanziellen Hilfen sprachen, sagten Sie, es ginge darum, die „erste Strecke“ zu bewältigen. Auf welchem Teil der Strecke sehen Sie die Kulturschaffenden jetzt, in welcher Phase befinden wir uns?

Carsten Brosda Das ist schwierig zu sagen, da wir zeitlich das Ziel der Strecke nicht kennen. Aber wir können zum Glück weiterhin der Kultur durch diese schwere Zeit helfen. Wir sind in Gesprächen mit der Finanzbehörde, damit wir nachlegen können, wenn die bisherigen Hilfen nicht mehr reichen. Dabei geht es aber nicht mehr nur darum zu kompensieren, dass nichts passiert, sondern wir wollen an vielen Stellen ermöglichen, dass wieder etwas stattfinden kann. Insofern sind wir auf einem neuen Teil der Strecke. Es hat geklappt, das Infektionsgeschehen deutlich zu bremsen. Aber keiner weiß, ob wir durch die Talsohle sind oder ob weitere Buckel kommen. Ich will das nicht hoffen, aber es gibt ja verschiedene Szenarien, wie so ein Virusverlauf sein kann. Momentan merkt man: Das Nachdenken darüber, wie ein Kulturleben aussehen kann, ist in vollem Gang. Es wird zwischenzeitlich sicherlich anders aussehen als vor dem 13. März, aber wir geben alles, damit Kultur wieder ihre volle Kraft entfalten kann.

Der Pianist Igor Levit hat kürzlich erklärt, Künstler hätten jetzt die Aufgabe, „nicht nur Relevanz einzufordern, sondern Relevanz zu erschaffen und nicht in Angst zu erstarren“​. Sehen Sie Beispiele für beides?​

Ja. Ein Problem während der starken öffentlichen Beschränkungen war sicherlich, dass viele die Relevanz zunächst nur erschaffen konnten, indem sie darüber redeten, was sie hätten tun können. Es gab die Ausnahmen wie Igor Levit, der sich für Twitter ans Klavier gesetzt und gespielt hat. Ich habe ihn so verstanden, dass es ihm darum geht, sich selbst als Kunst im Bewusstsein der eigenen immanenten Bedeutsamkeit im gesellschaftlichen Gespräch zurückzumelden. Es gibt sicher die eine oder andere Einrichtung, ohne da jemanden spezifisch im Blick zu haben, die sich vor Corona in ihrer Selbstverständlichkeit zu sicher war. Ich kann ja mit Verzagtheit reagieren oder der Gesellschaft verdeutlichen, warum es mich gibt. In einem ganz tiefgreifenden Sinn. Es wäre jedenfalls schlimm, wenn sich Künstlerinnen und Kulturorte aus den vor uns liegenden Diskursen zurückziehen würden. Themen wie Freiheit, Zusammenhalt, Öffentlichkeit gehen sie im Kern etwas an! Wenn sie mit ihren Mitteln diese Debatten befeuern, so wie es Igor Levit beispielsweise regelmäßig macht, ist es ein Leichtes, ihre Relevanz zu beweisen.

Welche Debatten kommen da auf uns zu?

Die Frage, wieviel Geld überhaupt noch für die Kultur da ist, wird uns in Hamburg hoffentlich nicht so sehr beschäftigen wie zum Beispiel dort, wo Kultur in kommunaler Verantwortung stattfindet. Aber wie gestaltet sich das Verhältnis von Gesellschaft und Markt? Wie ist die Rolle des Staates? Was heißt „Solidarität“ und was folgt aus ihr? Was heißt internationale Zusammenarbeit in Zeiten, in denen wir es nicht mal schaffen, die Grenzen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein offen zu halten? Sind wir als Gesellschaft so reif, wie wir es sein müssten angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen?

Sie haben davor gewarnt, in eine „vorcoroniale Routine“ zu fallen. Wenn Sie jetzt auf die Stadt schauen, was beobachten Sie?

Man merkt, wie schnell man wieder in Routinen zurück fällt. In mancherlei Hinsicht. Es war toll, auf den Balkonen den Helfern zu klatschen – aber das verändert ja noch nicht die Lebenssituation auch nur eines einzigen Menschen in traditionell unterbezahlten Berufen. Das setzt eine gesellschaftliche Verständigung und eine politische Entscheidung voraus. Wenn ich mich um Solidarität und Engagement nicht kümmere, dann ist das wieder weg. Corona hat uns diese Fragen wie ein Katalysator vorgelegt. Fast alle Fragen gab es ja schon vorher! Solidaritätsprobleme, dass der Markt eine Eigenlogik hat, die gesellschaftlich schädigen kann, dass Europa nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen. Die Probleme haben sich verschärft, und ich hoffe, dass wir als Gesellschaft den Schuss hören und etwas daraus machen. Bequemer ist es, jetzt zu sagen: Ach, es war doch vorher schön, es wird nachher auch wieder schön. Die Einsicht zu haben, dass es noch schöner werden kann, wenn man sich ein bisschen anstrengt – die brauchen wir jetzt.

Sind Sie da zuversichtlich?

Ich glaube, es ist noch offen. Wir haben wahnsinnig schnell vergessen, wie sehr uns die Bilder aus Bergamo, Madrid oder New York erschrocken haben. Die aktuell schrecklichen Bilder, zum Beispiel aus Lateinamerika, sind in unserer Wahrnehmung schon nicht mehr so präsent. Und wir wissen nicht, was auf dem afrikanischen Kontinent oder in Indien noch passieren wird oder auch schon passiert. Gleichzeitig wird es hier Sommer, die Zahlen gehen runter, man hat das gefährliche Gefühl, wir haben es hinter uns. Das Bewusstsein für das Präventionsparadox – dass es ja nur so ist, weil wir uns eingeschränkt haben – droht zu verschwinden. Manche, die sich am Anfang danach gesehnt haben, dass man sie einsperren möge, schreien nun danach, dass man ihnen ihre „Freiheit“ zurück geben soll. Dabei sind krude Vorstellungen, da äußern sich auch eine ganze Reihe erkennbar Unvernünftige. Ob sich die Aluhüte durchsetzen oder die Vernünftigen, die berechtigte Fragen in einer schwierigen Zeit stellen, ist schon eine entscheidende Frage. Nochmal: Hier wird es darauf ankommen, wie wir als Gesellschaft diese Debatten aufgreifen und mit welcher Ernsthaftigkeit wir über die Lehren der letzten Wochen reden.

Thalia-Intendant Joachim Lux hat kürzlich sein Befremden geäußert: Er sei „verstört, wie schnell und radikal jetzt viele drängeln und Druck machen“.

Damit ist er nicht alleine, auch nicht in den Theatern. Auch in Nordrhein-Westfalen waren die Bühnen verstört, als ihnen am Abend gesagt wurde, dass es plötzlich wieder möglich sei zu öffnen. Darauf war kein Betrieb eingerichtet. Wir geben hier eine andere Planungssicherheit. Aber wie es sich anfühlen wird in einem wahrscheinlich mindestens halbleeren Saal, das wissen wir alle nicht. Was fehlt da an Energie, wie sieht es aus, wenn man auf der Bühne Abstand halten muss? Wie organisiert man Auf- und Abbau? Können die Theater wie bisher tagsüber proben und abends spielen? Darauf braucht es Antworten, die man nicht theoretisch geben kann.

Dann mal ganz praktisch: Wenn man sieht, dass der Flugbetrieb, der sich nur mit voll besetzten Reihen lohnt, dies so auch wieder darf, stellen sich im Kulturbereich Fragen.

Ich weiß nicht, wer es den Airlines auf welcher Grundlage gestattet, voll besetzt zu fliegen – nicht die Hamburger Kulturbehörde, so viel sei mal gesagt. Es hat wohl mit der Leistungsfähigkeit der Lüftungsanlage zu tun, habe ich gelesen. Wir werden in der Kultur jedenfalls behutsam ausprobieren, was geht, und dabei schlauer werden. Ich hoffe, wir können immer präziser werden und noch viel über Distanz und Aerosole lernen. Vielleicht ist auch eine andere Besetzung im Zuschauerraum vorstellbar, wenn alle Masken tragen. Oder ist das dann eher eine Tortur als ein Erlebnis? Ich bin dafür, dass wir uns die Offenheit bewahren – aber auch die Vorsicht. Es ist besser, kleine vorsichtige Schritte zu machen als einen Riesenschritt und sich dann plötzlich wieder am Anfang zu befinden.

Manches hat ja bereits sehr gut geklappt, die Öffnung der Museen verlief problemlos.

Das lag an der guten Kooperation aller Beteiligten. Man muss aber zum Schmerz eines Kulturpolitikers sagen: Das hat auch damit zu tun, dass die wenigsten Museen ein Problem mit Überfüllung hatten in den letzten Wochen… Jetzt beobachten wir, wie es in den Kinos funktioniert, wo man Zuschauer, aber kein Bühnengeschehen hat, und wissen dann wieder mehr für die Theater.

23 Intendanten, unter ihnen die von Thalia und Schauspielhaus, haben einen Brief an Frau Merkel geschrieben, in dem sie ihre Sorge um das Fortbestehen des kulturellen Lebens formulieren. Teilen Sie die Sorge?

Eingeschränkt. Ich habe den Brief als Fingerzeig verstanden, den fand ich richtig. Aber man hat für die eigene Sache nicht die richtige Ebene adressiert. Die Aufgabe, ein Stadttheater oder ein Landestheater zu retten, die hat die Stadt oder das Land, nicht der Bund. Wir brauchen die Hilfe des Bundes vor allem bei den privaten Häusern. Unsere staatlichen Theater können sich sicher sein, dass ihnen der jeweilige staatliche Träger hilft – und sie wissen das auch. Mit dem Konjunkturprogramm des Bundes sind wir jetzt hoffentlich so aufgestellt, dass die Mittel da sind, um auch überwiegend nicht staatlich finanzierten Einrichtungen und Veranstaltern zu helfen.

In diesem Punkt gelten Sie als mitverantwortlich, sind Sie demnach zufrieden mit dem gerade veröffentlichten nationalen Konjunkturprogramm?

Das Geld aus Berlin ersetzt nicht das, was wir in den Ländern machen müssen, es kann sinnvoll ergänzen. Das Konjunkturpaket ist ein starkes Bekenntnis zu Kunst und Kultur. Das ist wichtig! Es schafft die Grundlage, sich um den Erhalt einer Infrastruktur zu kümmern, die von unvergleichlicher Relevanz für unsere Gesellschaft, ihre Freiheit und ihre Zukunft ist. Es ist gut, dass Geld in die Kultur investiert wird und nicht in den Kauf von Verbrennungsmotoren. Jetzt kommt es aber darauf an, dass die konkreten Programme auch wirklich da helfen, wo es nötig ist. Dazu müssen Bund, Länder und Kommunen sich gut abstimmen und im engen Austausch mit den Einrichtungen und Künstlerinnen und Künstlern bleiben.

Im Hamburger Koalitionsvertrag stehen außerdem Förderinstrumente, die die „neue Normalität unterstützen“ sollen. Was könnte das sein?

Kulturorte wieder spielbereit zu machen zum Beispiel. Da ist es sinnvoll, unsere Maßnahmen mit denen des Bundes zu verzahnen. Wir wollen außerdem mehr und anderes fördern – auch Dinge, die schon jetzt umsetzbar sind. Es gibt gute Vorschläge vom Dachverband Darstellender Künste, der gefordert hat, man möge den Künstlern doch jetzt die Recherche für spätere neue Stücke ermöglichen. Das finde ich genau den richtigen Ansatz. Und wir reden natürlich darüber, wie wir Kultureinrichtungen in die Lage versetzen zu veranstalten, obwohl sie gesichert wissen, dass es nicht profitabel ist. Wir wollen ermöglichen, dass etwas stattfinden kann. Übrigens auch im Bereich der Clubs, wo wir sicherlich besonders viel Fantasie und Durchhaltewillen brauchen. Wir haben darum das Reeperbahnfestival bewusst nicht abgesagt. Damit man sieht, dass diese Orte da sind und Ideen entwickelt werden, wie diese auch unter der neuen Normalität über das Festival hinaus da seien können.

Sichtbarkeit ist ein wichtiger Punkt. Seit der Eröffnung der Elbphilharmonie wurde Hamburg als Kulturstadt ganz anders wahrgenommen – innen und außen. Beginnt da jetzt manche Diskussion von vorn?

Ich habe kein Indiz dafür, dass wir zurück auf Los gehen. Im Gegenteil. Dass Kultur ein wesentlicher Bestandteil dieser Stadt ist, wird so bleiben – da muss ich mir nur anschauen, was alles noch kommen soll: das Haus der Digitalen Welt, das Hafenmuseum, das Haus der Migration, die Erweiterung der Deichtorhallen für die Gundlach-Sammlung, die Neumeier-Sammlung. Es kommen Impulse dazu, neue Initiativen für soziale und kulturelle Freiräume. Damit sind wir bei Igor Levit vom Anfang: Nimmt die Kulturstadt Hamburg die Herausforderung an, relevant sein zu wollen, dann wird das leicht. ​