Hamburg. Der Germanist und Institutsgründer las bei Felix Jud vor laufender Kamera aus seinem Kinderbuch „Weg war das Ihmchen!“

Es wäre eine Spekulation zu behaupten, dass sie vor allem pandemisch bedingt sogleich emsig zu Werke gingen und ins Untergeschoss stürzten. „Sie“, das sind die Buchhändlerinnen bei Felix Jud. Dort war Jan Philipp Reemtsma zu Gast. Und Jan Philipp Reemtsma hustete, ja, beinah geriet er ins Röcheln. Oder zumindest eine Vorform davon. Da versagte doch glatt die Stimme, er hatte gerade angefangen zu lesen.

Weshalb nun also die Buchhändlerinnen etwas zur Beruhigung der Stimmbänder suchten. Sie fanden: ein Bonbon, genauer ein Latte-Macchiato-Bonbon ohne Zucker. „Die kenne ich“, sagte Reemtsma da, hatte sich vorher aber schon, da stöberten die Dame noch eifrig im Keller, ein Ende der Störung ausbedungen – „Ruhe in den Kulissen, es geht schon wieder, ich möchte weitermachen“.

Das war resolut gesprochen und mehr ernst als augenzwinkernd, ein Satz, der den Helden in Reemtsmas neuem Buch so auch einfallen könnte: Kurtpeter, dessen Ihmchen stiften gegangen ist, Beinelars und Linse. Das rätselhafte Wort „Ihmchen“ muss an dieser Stelle dringend erstmals fallen, denn ohne dieses Wort gäbe es das alles nicht, diesen etwas absurden Abend, aber was ist nicht absurd in dieser verzerrten Gegenwart. Dieses Buch und diese Situation, in der ein Schriftsteller und Publizist in einer (ab-)geschlossenen Buchhandlung vor exklusivem Publikum liest, der Felix-Jud-Belegschaft. Diese Störung durch das Wegbleiben der Stimme.

Warum schreibt Reemtsma ein Kinderbuch?

Wären das hier normale Live-Bedingungen, sagte Reemtsma dann in den beinah leeren Raum hinein, „wäre mir das nicht passiert“. Es war in der Tat keine normale Live-Sendung, aber eben doch eine Sendung. Vor Reemtsma stand eine Kamera, die seine Lesung aufnahm. Die Buchhandlung will sie später streamen. Als Ersatz für die coronabedingt ausgefallene Lesung, mit der Reemtsma sein neues Buch „Weg war das Ihm­chen!“ eigentlich vorstellen wollte.

Den zweifelhaften Charme einer Veranstaltung in Corona-Zeiten hatten diese, nennen wir es ruhig: Dreharbeiten aber doch. Reemtsmas Lesetischchen war direkt an der Tür positioniert, er saß mit dem Rücken zur Treppe und dem anschließenden, der feinen Bücherstube am Neuen Wall ihren Charme gebenden engen Halbgeschoss. Wo wiederum während der Aufnahme die Buchhändlerinnen saßen. Mit Mund-Nasen-Schutz.

Also, was ist ein „Ihmchen“? Und warum hat der Literaturwissenschaftler, Forscher, Essayist und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung nun überhaupt ein Kinderbuch geschrieben? Letzteres ist ja eine inflationär gewordenes Hobby sich berufen Fühlender. Selbst Heidi Klum hat mal eines veröffentlicht. Eins kann man gleich mal konstatieren: „Weg war das Ihmchen!“ ist keine Banalität, keine schreiberische Anmaßung, sondern ein Kinderbuch, wie es sich gehört.

Drei Kinder wollen das Ihmchen finden

Die Illustrationen stammen von Nikolaus Heidelbach, und sie bebildern eine zwischen Staunen, Abenteuer, Emotionen und Grusel angesiedelte Story, die zunächst einmal typisch ist: Es geht um eine Suche. Das Ihmchen ist ein Fabelwesen, so muss man es am allgemeinsten sagen. Näher kommt man dem Ihmchen nicht. Das ist eine Grundvoraussetzung für die kindliche Vorstellungskraft. Fantasie ist entscheidend.

Deswegen funktioniert die Geschichte, die Reemtsma („Ich schreibe schnell“) laut eigenem Bekunden in zwei Wochen niedergeschrieben hat. Drei Kinder wollen das Ihmchen finden, sie werden dabei zwischendurch von einem Krokodil gefressen und müssen auch dem Schlimmen Urs und der Höllenköchin begegnen. Sie führen auf ihrer Suche viele Gespräche, die so alt- und kinderklug sind, dass Kinder sich unbedingt in ihnen wiedererkennen können und Erwachsene lachen müssen. Genau das macht gute Kinderbücher aus.

Reemtsma hat vier Enkelkinder. Bei denen und bei anderen Testlesern, denen er das Buch zu lesen gab, kam „Weg war das Ihmchen“ gut an. So erzählt es Reemtsma vor seiner Internetlesung. Er berichtet auch von einer Fehlannahme, sie gehöre, um diese Frage nun zu beantworten, zur Entstehungsgeschichte. Er habe, sagt Reemtsma, gar nicht vorgehabt, ein Kinderbuch zu schreiben, „ich hatte lediglich den Titel im Kopf“. Und vor allem das „Ihmchen“, jenes Wort, von dem Reemtsma nur annahm, dass er der Erfinder ist. Nun sei er aber bereits darauf hingewiesen worden, dass „Ihmchen“ eine abschätzige Bezeichnung im Berlinerischen sei.

Junge und alte Leser sollen den Stoff gleichermaßen toll finden

Schmälert das irgendwas? Nö. Der Feststellung, dass sein Buch zur Spezialgattung der Kinderbücher für Erwachsene zählt, widerspricht der Autor nicht. Aber den Hintersinn der Frage, ob die einst geplante Lesung denn eine Mittags- oder Abendveranstaltung gewesen wäre, bemerkt er nicht gleich, um dann aber durchaus richtig zu vermerken, dass die Erwachsenen zur Abendlesung ja mit kindlichem Anhang hätten kommen können. Reemtsma hat also auch mit Hinblick auf ein erwachsenes Publikum geschrieben. Er will, dass junge und alte Leser den Stoff gleichermaßen toll finden. Und er fände es enttäuschend, wenn gerade Kinder vom Ihmchen schon bald nichts mehr wissen wollen.

Nun, das wird allein schon deswegen nicht so sein, weil im Text die Worte „Scheiße“ und „kotzen“ vorkommen. Es gibt ein Anarcho-Element in dieser dann doch nicht immer kindgerechten Prosa, die bei manchen erwachsenen Vorlesern Stirnrunzeln hervorrufen dürfte.

Jan Philipp Reemtsma: „Weg war das Ihm­chen“, Kampa Verlag, 128 Seiten, 28 Euro
Jan Philipp Reemtsma: „Weg war das Ihm­chen“, Kampa Verlag, 128 Seiten, 28 Euro © Kampa Verlag | Kampa Verlag

Eine Art höheren Auftrag – Lesebegeisterung wecken etc. – hat er übrigens eh nicht ausführen wollen. Nein, sagt Reemtsma, „das wäre zu pädagogisch gedacht, die Kinder sollen einfach dieses Buch mögen“. Aber es sind die Erwachsenen, die erst mal die Geschichte vom Ihmchen anschaffen müssen. Weshalb sich das PR-Video – was sonst wären Internetlesungen, ja Lesungen allgemein? – eher an Erwachsene richten dürfte. Obwohl der 67 Jahre alte Reemtsma, der ohnehin ein erprobter Leser ist, gut vorträgt und sicher als Märchenonkel (die märchenhafte Züge seines Buchs sind nicht zu leugnen) durchgehen kann.

Als Perfektionist unterbrach Reemtsma die Aufnahme seiner Lesung nach einem Verhaspeln schon, bevor ihn dann seine Stimme kurzzeitig im Stich ließ. Danach nahm er selbst Zungenbrecher wie „Kürbiskirschtaschensaft“ souverän in den Mund. Von dort, wo die Buchhändlerinnen saßen, war bisweilen ein leises Lachen zu vernehmen. Kinder, ist der Text komisch!

Die Lesung ist im Internet im Felix-Jud-Kanal auf YouTube abrufbar. In der Buchhandlung selbst gibt es signierte Buchexemplare zu erwerben.