Hamburg. Die Orchester dürfen nicht spielen, nichts ist erlaubt. Wie kann das klassische Musikleben vor dem Kollaps bewahrt werden?

Ist das nun die absehbare Zukunft? Rund 2200 leere Plätze am 1. Mai in der Berliner Philharmonie, in der Kirill Petrenko beim „Europakonzert“ nur drei Handvoll statt 128 Philharmoniker dirigierte. Auf dem Programm ausschließlich Stückchen, die sich an die Hygieneregeln halten, weil Sinfonien gerade wie Aussätzige zu behandeln sind: Pärts „Fratres“, ein Stück, das mit wenig Personal möglich ist, Barbers „Adagio for Strings“, das regelmäßig gespielt wird, wenn Fürchterliches zu betrauern ist. Und Mahlers Vierte, normalerweise riesig besetzt, in einer mikroskopischen Version von 1921.

Eine Erinnerung an die Epoche, in der Arnold Schönberg und seine Freunde für ihren Wiener „Verein für musikalische Privataufführungen“ kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (und zu Zeiten der Spanischen Grippe) großes Repertoire eindampften. Denn große Besetzungen konnte man sich nicht leisten. Knapp 100 Jahre später ist es wieder so, dass schon sehr wenig besser ist als gar nichts. Allerdings unter ganz anderen Vorzeichen.

Musiker und Veranstalter fragen sich unisono: Was nun?

Ein sehr symbolischer Staatsakt mit Bundespräsident war dieses Berliner Konzert, ohne Publikum war es aber auch eine deutlich kleinere Herausforderung als mit zuhörenden Menschen im Saal. Die Düsseldorfer Symphoniker boten ein ähnlich organisiertes „Konzert in den Mai“ an, ebenso die NDR Radiophilharmonie in Hannover. Ein neues Geisterspiel-Format also, nur ohne Fußball-Profis, aber auch eine fordernde Ansage: Wir müssen wieder auftreten können, fast egal, womit. Egal, wie umständlich, aber so schnell wie möglich und so oft wie nötig. Live und vor Menschen, nicht virtuell vor streamenden Kameras.

Nach den ersten Wochen der Pandemie, in denen das Kulturangebot und damit auch alle Klassik-Formate von jetzt auf gleich und bis wann auch immer nicht stattfinden dürfen, fragen sich Musiker und Veranstalter unisono: Was nun? Was darf man möglichst nicht erst im Herbst anbieten, ohne Gesundheitsrisiko zu sein? Antworten auf diese Fragen hat seit März noch niemand erhalten. Es gibt dazu keinen hoffnungsschimmernden O-Ton von der Wagnerianerin Angela Merkel, nichts Wegweisendes vom Ex-Elbphilharmonie-Bauherrn Olaf Scholz. Es gibt: Berufsverbote.

Das Coronavirus in Deutschland und weltweit:

Sowohl die Konzerthauskonferenz, in der rund 20 große Häuser vertreten sind, als auch der Verein der Chefdirigenten und Generalmusikdirektoren haben deswegen in offenen Briefen an Kulturstaatsministerin Monika Grütters Widerstand gegen die bisherige Behandlung angemeldet. Grund der Aufregung war das Positionspapier „Normalisierungskonzept Kultur“ des Städtetages, nach dem noch lange nichts passieren darf, während alles Kulturleben in der so gern in Reden beschworenen Kulturnation Deutschland zu verenden droht.

Die Intendantinnen und Intendanten sind überzeugt, dass die Vorgaben „in differenzierter Weise umsetzbar sind. Konzerthäuser haben die Flexibilität, Solisten, Kammermusik-Ensembles oder groß besetzte Orchester auftreten zu lassen.“ Man will Besucherzahlen anpassen und Konzepte entwickeln, die „eingeschränkten Betrieb“ ermöglichen, mit Abstandsregelungen, Hygienekonzepten, Einlass- und Auslassmanagement auf und hinter der Bühne, im Zuschauerraum und den Foyers. Denn: „Kultur ist in unserem Land systemrelevant!“

Coronavirus – die Fotos zur Krise:

Die Dirigenten sekundieren: „Nicht nur Baumärkte, Möbelhäuser und die Fußball-Bundesliga haben eine klare Perspektive und klare Regeln für einen Neuanfang verdient. Wir sind uns der Risiken sehr bewusst, glauben jedoch, dass bei Schließungen ohne zeitliche Perspektive einer Lockerung der Spiel- und Probeverbote, das deutsche Musikleben und die weltweit einzigartige Stadttheaterlandschaft irreparablen Schaden nehmen werden.“ Es gäbe Möglichkeiten für Live-Aufführungen, meinen sie: konzertante Oper, open air, Stücke mit Regie-Konzepten für die Abstandsregeln. Wenige Tage zuvor hatten sich 40 Musikfestivals zusammengetan, um die „Gleichbehandlung von Kultur mit Sport, Religionsgemeinschaften und Wirtschaft“ einzufordern.

Neue Nähe: Mitglieder des Orchesters telefonieren mit Abonnenten

Zu diesen Hilferufen passt, dass die English National Opera in London gerade ein smartes Drive-in-Konzept vorstellte: Bei „Drive Live“ sollen im September zwölf Aufführungen auf einem Freigelände stattfinden. Platz ist für 300 Fahrzeuge. Gespielt werden sollen, nach allen Regeln der Not, 90-Minuten-Fassungen von „La Bohème“ und der „Zauberflöte“. Die erste Vorstellung soll gratis sein, als Dank für den heroischen National Health Service.

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Nicht nur die Münchner Philharmoniker arbeiten derzeit an einem Hygienekonzept für Konzertformate, doch dort ist man besonders einfallsreich, um gleichzeitig auch den Kontakt zum darbenden Publikum aufrechtzuerhalten: Mitglieder des Orchesters telefonieren mit Abonnenten und die sind hin und weg über diese neue Nähe, berichtet Intendant Paul Müller. Es kann so einfach sein, auch wenn vieles brachial kompliziert ist. Wie alle anderen wartet aber auch er noch auf konkret umsetzbare Spiel-Regeln von der Politik.

Kurze Konzerte für wenige, um Pausengedrängel zu vermeiden

Was das Schleswig-Holstein Musik Festival im „Sommer der Möglichkeiten“ möglich machen kann, soll wohl im Juni bekannt gegeben werden. Bei den Salzburger Festspielen, die sich ihren 100. Geburtstag ganz anders gedacht hatten, denkt man auf einem Rumpf-Programm herum, auch, weil die Mozart-Stadt nun mal von Kultur und Tourismus lebt.

Nun müsste die Zeit schneller, flexibler Alternativen kommen: Kurze Konzerte für wenige, um Pausengedrängel zu vermeiden; in mehreren Runden, um die arg schmalen Einnahmen zu verbessern. Noch günstigere Preise, weil Kultur jetzt erst recht kein Luxus sein darf. Einlassregelungen wie beim Boarding auf Flughäfen, nur viel strenger. Klavierkonzerte, Kammermusik, Lieder, Opern-Hits per „Harmoniemusik“ für einige Bläser, dann eben mit Tröpfchenflug-Schutzwänden.

Schon ein einzelner Live-Zuhörer wäre besser als keiner

Schon ein einzelner Live-Zuhörer wäre besser als keiner. Genügend Repertoire wäre für mehrere Pandemie-Runden vorhanden. Solange die Wucht einer Mahler- oder Schostakowitsch-Sinfonie tabu ist, würde man mit kleineren Streichersinfonien von Mendelssohn das Hören von Musik ganz neu, ganz anders lernen. Schon Beethovens „Eroica“, die das Wiener Premieren-Publikum durchschüttelte, wäre dann nach Corona eine Schippe feinstes Klassik-Crack.

Da ein größerer Teil des Klassik-Stammpublikums altersbedingt als Risikogruppe anzusehen ist, böte sich die Chance, jüngeres Publikum mit niedrigschwelligen Angeboten zu ködern. Kostproben zu homeofficekompatiblen Zeiten, wissensvermittelnd und nicht für Gourmets, die nach zwei Takten wissen, welches Bartók-Streichquartett gespielt wird und von wem. Bach-Kantaten, solistisch besetzt. Barocke Miniaturen, Musik aus einer Zeit, in der 100-Mann-Orchester so unvorstellbar waren, wie sie es jetzt sind.

Nichts davon sind Ideen oder Werke, auf die viele Intendanten, Künstler und Dirigenten nicht selber kämen. Nichts davon ist ihnen bislang erlaubt – und niemand von ihnen hat bislang einen Spielplan B vorgelegt. Manche scheinen sich mit ihrem Kulturauftrag in die Sommerpause retten zu wollen.

Die Sinne für Musik schärfen und die Sehnsucht zu stillen, das wäre die epochale Möglichkeit und Notwendigkeit. 5,5 Milliarden Euro Schaden, schätzt der Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft, sind für dieses Katastrophenjahr zu ertragen. Bliebe es beim derzeitigen Nichts, wird der Verlust unrettbar sein.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten