Hamburg. Der Hamburger Sänger fordert in einem Offenen Brief, norddeutsche Musikerinnen und Musiker in der Coronakrise stärker zu fördern.
Sänger Michy Reincke leidet wie viele seiner Berufskolleginnen und -kollegen unter der Coronakrise. Auftritte sind nicht möglich, finanziell wird es schnell sehr eng. Der NDR könnte ganz direkt helfen, so Reincke, indem er nachts Musik norddeutscher Künstler spielt. Ein Offener Brief an den NDR-Intendanten Joachim Knuth:
Sehr geehrter Herr Knuth,
ich wende mich an Sie mit einem Vorschlag und einer Bitte.
Vorab erlauben Sie mir, etwas auszuholen: Für jedes gespielte Lied muss jeder Rundfunk- und Fernsehsender, je nach Dauer, Tageszeit und Reichweite, eine Gebühr an die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) und an die GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) abführen. Mit diesem Geld, das auch aus dem „Topf“ gespeist wird, den die Beitragszahler für ihre öffentlich-rechtlichen Medien entrichten, werden die Musikverleger, Komponisten und Texter (GEMA) und die Label, Interpreten und Musiker (GVL) anteilig für ihre Leistung entgolten, die durch das Senden ihrer Arbeit entsteht.
Seit 1993 ist im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der ARD das Konzept des sogenannten formatierten Radios in Kraft. Seitdem ist eine möglichst hohe Einschaltquote die einzige Rechtfertigung für die Programmgestaltung. Dies führte zur nahezu ausschließlichen Abbildung der Produkte der Unterhaltungsindustrie: Hitparadenmusik für die „Mainstream“-Sender, internationale Oldies für die Landesfunkhäuser. Industrieunabhängige Musikangebote werden mit dem Hinweis abgewiesen, diese seien nicht populär genug, die Hörer würden abschalten und dies würde die Quote kaputt machen.
Die Qualität eines künstlerischen Angebots und Ausdrucks nur auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit hin zu bemessen und nicht von einer Vielzahl redaktioneller Fachkräfte auf ihre vielfältigen künstlerischen Aspekte hin beurteilen zu lassen, ist eine fragwürdige Methode.
So kommt es jedenfalls, dass die eigenverantwortlich arbeitenden Musikschaffenden der Gemeinschaft (deren Familien, Freunde und Fans unser öffentlich-rechtliches Mediensystem ja auch mitfinanzieren), weitestgehend leer ausgehen, während die Label und Musikverlage der Konzerne Universal, Sony und Warner – die in dieses System nicht einzahlen – von der beschriebenen Verteilung der GVL- und GEMA-Gelder über alle Maßen profitieren.
In diesen Zeiten, in denen meinen Kolleginnen, Kollegen und Freunden ihre Arbeitsgrundlage entzogen wurde - wir dürfen nicht auftreten, können keine Konzerte veranstalten und kein Geld verdienen - unterbreite ich Ihnen nun folgenden Vorschlag: Wie wäre es, wenn auf den Wellen des NDR, jedes Nachtprogramm von 0 Uhr bis 5 Uhr morgens, formatfrei mit den Musikangeboten der regionalen, nicht an Unterhaltungskonzerne angeschlossenen, Kulturschaffenden gestaltet werden würde? Und zwar mit der gleichen Ausschließlichkeit, die den drei genannten Konzernen tagsüber für die Werbung ihrer Produkte zugestanden wird.
Für die Ermittlung der „heiligen Quote“ haben diese Stunden wenig Relevanz.
Durch Einsätze der Musik-Produktionen im Nachtprogramm, die von den Sänger*innen, Musiker*innen, Songschreiber*innen, den kleinen selbstständigen Label und kleinen Musikverlagen Norddeutschlands auf den Weg gebracht wurden, könnten die Erlöse, die durch GEMA und GVL entstehen, aber schon eine notlindernde, vielleicht sogar grundsichernde Wirkung haben.
Die Frage wäre doch eigentlich nur, ob die Beitragszahler lieber die bisher sehr wenig respektierten und gerade unverschuldet in Not geratenen, eigenständig gestaltenden Künstler*innen Norddeutschlands unterstützen wollen, die Ausdruck der kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaft sind, oder ob die Hörer sich auch nachts noch die Hitparadenmusik und Oldies der Unterhaltungs-Industrie wünschen, die schon den ganzen Tag über im Programm läuft.
Ich möchte Sie – bei allem Respekt – darum ersuchen, die Verhältnismäßigkeit zu überdenken, mit der in Ihren Programmen seit sehr langer Zeit die Qualitätsbeurteilung zu Gunsten industrieller Musik-Produkte überhöht wird und unabhängige Musikangebote (ohne eine redaktionell fachliche Prüfung) schlicht ignoriert oder in der beschriebenen Weise abgewiesen werden.
Die musikschaffenden Künstler*innen aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen würden es Ihnen danken. Das wäre eine Unterstützung von „Format“! Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht nur eine Welle der Solidarität, sondern auch ein neuerwachtes Interesse an der reichen Kreativität in der Gemeinschaft des Nordens auslösen würde.
Meine Bitte an Sie wäre nun eine Prüfung meines Vorschlags und eine Unterbreitung desselben bei Ihren Kolleginnen und Kollegen der ARD, ob ein nächtliches „Support Your Locals“ nicht auch bundesweit eingeführt werden könnte. Für ein Gespräch stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Ich freue mich von Ihnen zu hören.
Mit freundlichen Grüßen,
Michy Reincke