Hamburg. Was für ein Brocken: Im Taschen Verlag erscheint „The adidas Archive“ – eine schwergewichtige Leistungsschau der berühmten Sportschuhe.
Freudensprünge wird man nicht gemacht haben bei Taschen in Köln, dem international geschätzten Verlag für prächtige und großdimensionierte Bildbände. Das Imagedesaster für Adidas im Zuge der Coronakrise hätte man sich nicht größer ausdenken können: Wie andere Unternehmen wollte der Sportbekleidungsriese aus Franken die Mietzahlungen seiner Geschäfte für die Dauer der Ladenschließungen aussetzen. Und sah sich dann mit einem Shitstorm konfrontiert.
Muss man Mitleid haben angesichts von etwa einer Milliarde Euro Verlust, die Adidas allein in China im ersten Quartal machte? Mitnichten. Adidas ist schließlich nicht der tapfere Einzelhändler von um die Ecke. Und trotzdem bringt Taschen das Gegenprogramm zum schlechten Bild in der Öffentlichkeit, ein Buch gewordener Blick ins Adidas-Archiv aus Anlass des 100. Quasi-Geburtstags von Adidas: 1920 übernahm Adolf „Adi“ Dassler den Schuhmacherbetrieb des Vaters.
Vorher schon hatten er und Bruder Rudolf, der später Puma gründen sollte, ihre ersten Schuhe in der elterlichen Waschküche her. Und was man in diesem riesigen Bildband (knapp 650 Seiten!) in Augenschein nehmen darf, erzählt natürlich von nichts anderem als der Herrlichkeit einer Marke, die Sport- und Designgeschichte geschrieben hat. Etwas tiefer gehängt ist „The adidas Archive“ eine umfassende Produktschau aus beinah 100 Jahren Unternehmensgeschichte. Eine Art Katalog, in dem das firmeneigene, tatsächliche Archiv fotografisch dokumentiert wird.
Muhammad Ali schrieb ein paar persönliche Worte
Christian Habermeier und Sebastian Jäger haben in jahrelanger Arbeit die interessantesten Objekte in verschiedenen Perspektiven abfotografiert. Dabei ist der Abrieb der Geschichte gleich doppelt zu sehen: Nicht nur sind es einst moderne, aber längst überholte Entwicklungsstadien der Schuhe mit den berühmten drei Steifen, die hier abgebildet sind – es sind meist tatsächlich getragene und benutzte Sportschlappen, die ins Archiv gewandert sind. Ihre einstigen Besitzer waren prominent und hießen Max Morlock, Emil Zatopek, Heike Henkel oder Zinedine Zidane.
Wer also mit dem Hype um so banale Alltagsgegenstände wie Sport- und Freizeitschuhe nichts anfangen kann, der erliegt vielleicht dem VIP-Charme der Treter. Es waren dankbare Sportler, die dem enthusiastischen Sportfan und Schuhtüftler Adi Dassler (1900–1978) ihre ausrangierten oder für Ruhm und Ehre verantwortlichen Treter zuschickten.
Manchmal klebte der Rasen noch dran, manchmal hatten die Athleten und Sportheroen Widmungen und Autogramme für ihren Freund in Herzogenaurach auf den Schuhen hinterlassen. Muhammad Ali zum Beispiel schrieb ein paar persönliche Worte an Dassler auf seine weißen Boxstiefel mit den roten Streifen. Eine Geste der Dankbarkeit an den Schuhmacher, der weitaus mehr war: nämlich Schöpfer und, auf seine Weise, Weltmeistermacher.
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Die in Franken auflaufenden Schuhwerk-Sendungen wurden mindestens halb vom Chef eingefordert. Nicht, um sich bauchpinseln zu lassen, sondern um die benutzten Schuhe zu untersuchen, ihre bestmögliche Funktionalität zu hinterfragen und sie künftig noch besser zu machen. Und so war es lediglich ein Seiteneffekt, dass bei Adidas ein Archiv entstand, eine sich stetig vergrößernde Schuhsammlung.
Jahrzehntelang waren die historisch wertvollen Zeugnisse aus der Mode-, Design- und Sportwelt aber eher ein Fall für die Abstellkammer. Eine Zeit lang, schreibt Herausgeber und Fotograf Habermeier in einer der etwas zu vielen den Schuhaufnahmen beigesellten Vorbemerkungen, hätten die Objekte im feuchten Keller gelagert. Später wurden sie zufällig, da waren sie schon wieder woanders, aber keineswegs artgerecht untergebracht, von einem Schuhtechniker entdeckt, der dann, vor mehr als einem Jahrzehnt, die Dinge ins Rollen brachte.
Die Fotografen haben ihre Aufnahmen erklärtermaßen nicht nachbearbeitet. Wenn die früher auch mal aus Ziegenleder gefertigten Schuhe nun in verschiedenen Ansichten ihre Geheimnisse oder die historische Patina preisgeben, geht es also um Authentizität, nicht um Oberflächen-Glitzer.
Der Pianist Lang Lang hat ein eigenes Modell
Was wären das, einmal zum Verkauf freigegeben, für Hardcoresammlerobjekte, gerade die Spezialanfertigungen für Sportler wie Muhammad Ali! Fetisch-Charakter haben Adidas-Schuhe sowieso. Spätestens Mitte der 80er-Jahre, als die Rapformation Run DMC dem Modell „Superstar“ popikonische Bedeutung verlieh. Zuletzt erhielt auch Pianist Lang Lang einen eigenen Adidas-Schuh. „Superstar“, „Samba“, „Spezial“, „Gazelle“ etc., einst waren das nach den Bedürfnissen von Sportlern entworfene Schuhe, die Fußballern, Läufern, Handballern, Basketballern, aber auch Rodlern und Skispringern ihren Job erleichterten. Heute sind Sneaker Alltagsgegenstände und Lifestyleinsignien, die in Ausstellungen (zuletzt auch in Hamburg im Museum für Kunst und Gewerbe) gefeiert werden und für Sport- und Freizeitartikelhersteller ein gutes Geschäft sind. Es gibt regelmäßig limitierte Editionen, für die Sammler an den Flagship-Stores anstehen oder bei Ebay bieten.
Um die geht es in diesem eindrucksvollen Band aber nur am Rande. Das Buch bietet gewissermaßen eine Adidas-Leistungsschau im Kernbereich des Unternehmens: dem Sport. „The Adidas Archive“ ist eine Fundgrube für Sportfans und Designhistoriker.
Christian Habermeier und Sebastian Jäger haben verdienstvoll Schuhe, die bereits jetzt oder in naher Zukunft vom Zerfall bedroht sind, fotografisch konserviert. Kann aber durchaus sein, dass sich die Aura von Schuhen, die von Schorsch Hackl oder einem Fußball-Weltmeister getragen wurde, besser entfaltet, wenn man sich dreidimensional in einer Vitrine statt nur auf einer Papierseite sieht.
So oder so muss die Frage offen bleiben, ob sich die Trägerinnen und Träger jener VIP-Schuhe auch anderweitig in den Adidas-Schlappen verewigt haben. Hat nicht wenigstens Adi Dassler bei Ansicht der ihm zugesandten Schuhe den Hauch einer Duftnote herben Sportlerfußschweißes wahrnehmen müssen?