Hamburg. Chris Campe hat ein Faible für Schriften und Buchstaben. Ihr “Hamburg Alphabet“ gleich einem Streifzug durch die Metropole.
Die Stadt verändert sich, nicht nur in ungewissen Zeiten wie diesen: Als Bürger muss man bloß mit offenen Augen durch die Straßen Hamburgs gehen. Die Grafikdesignerin und Illustratorin Chris Campe hat das bereits vor der Coronakrise getan. Der Hamburger Künstlerin – Lieblingsmotive „Alles mit Buchstaben: Buchumschläge, Bücher, Magazincover, Illustrationen, Verpackungen und Logos“ – haben es insbesondere Ladenschilder und Fassadenbeschriftungen angetan.
„Ohne Schrift keine Stadt“, meint sie. Auch Schilder können das Bild einer Metropole prägen, sogar Orientierung bieten. Und so hat Chris Campe versucht, die Hansestadt in Form von Schriftzügen und Neonreklamen zu porträtieren. 220 Schilder hat sie in 50 Stadtteilen fotografiert, entstanden ist ein buchstäblich vielschichtiges „Hamburg Alphabet“.
Fotomarathon von Altona bis Sasel
Ihre Ausstellung in der Galerie Enfants Artspace in der Neustadt musste zwar vorzeitig schließen, und das Abhängen der Fotos war für Chris Campe „ein deprimierender Moment“. Jedoch hat sie parallel ein Buch herausgebracht – im Eigenverlag. Und wer ihr „Hamburg Alphabet“ 2020 betrachtet, erhält ungeahnte Anregungen für die Neuentdeckung der nahen Umgebung.
Ob Apotheken, Blumenläden, Fischgeschäfte, Kneipen, Restaurants, Hotels oder Clubs – Chris Campe hat bei ihrem Fotomarathon von Altona bis Sasel kaum etwas ausgelassen. Die freiberufliche Designerin stützt sich dabei auf ihr „Hamburg Alphabet“ von 2010. Für ihr erstes Buch, erschienen im Junius Verlag, war sie mehr als 1500 Kilometer per Fahrrad in der Stadt unterwegs und hatte ursprünglich rund 1000 Ladenschilder und Fassadenbeschriftungen fotografiert. 220 kamen ins Debütwerk. Damals wie heute ziert das Schild des denkmalgeschützten Motels Hamburg an der Hoheluftchaussee den Titel.
Vielfältige Materialien
Ebenso vielfältig wie die Motive sind die Materialien der Schilder und Schriftzüge: Neonröhren, Stein in der Hauswand, geschweißtes Metall, geschraubtes Holz, Farbe auf der Fassade oder geklebte Plastikfolie.
„Jetzt bin ich nicht mehr so planlos durch die Stadt gefahren“, erzählt Chris Campe lachend. Sie dokumentiert den Vorher-nachher-Effekt im Buch mit kleinen Geschichten. „Mehr als 40 Prozent der Schilder sind seit 2010 verschwunden“, hat Chris Campe beobachtet. Das sage nicht nur einiges über eine sich wandelnde Typografie, sondern auch über die Stadtentwicklung, meint die Künstlerin. Manches Mal ist nicht nur das Schild verschwunden, sondern das ganze Gebäude, an dem es befestigt war.
Das prominenteste „Opfer“
Das von der Adresse her (Reeperbahn 1) prominenteste „Opfer“ ist gewiss das China-Restaurant Mandarin, in dem auch der Mojo Club beheimatet war. Statt des grauen schmucklosen Flachbaus ragen hier Hadi Teheranis Tanzende Türme in den Himmel, der Mojo Club hat gleich neben den beiden Hochhäusern seinen spektakulären Eingang in den Untergrund. Doch auch eine gewisse Ursprünglichkeit zeigt der Kiez, obwohl die Kneipe St. Pauli Eck an der Simon-von-Utrecht-Straße ihren roten dreidimensionalen Schriftzug durch gedruckte Buchstaben ersetzt hat, indes flankiert von wild aufgeklebten Stickern.
In teureren Wohn- und Geschäftslagen, hat Chris Campe festgestellt, sind kaum typografische Relikte des Einzelhandels übrig geblieben, in nicht ganz so „entwickelten“ Stadtteilen schon. Dort glänzen die Schilder von über mehrere Generationen geführten Läden noch immer, insbesondere bei Blumenhändlern und Fischgeschäften wie im Blankeneser Fischhuus oder bei Fische Schmidt am Eppendorfer Baum in Harvestehude. Von früheren Grills und Friseuren hingegen ist oft nichts mehr zu sehen.
Der Betreiber des Cafés Milch (Dietmar-Koel-Straße) im Portugiesenviertel hat vom Schild des ehemaligen Milch-und Feinkost-Geschäfts zumindest den ersten Teil des Namens übernommen. Die Schilder der Bestattungsinstitute an der Fuhlsbüttler Straße in Ohlsdorf sind ohnehin wie in Stein gemeißelt.
Aber auch Kurioses hat Chris Campe bei ihrer zweimonatigen Arbeit für ihr neues „Hamburg Alphabet“ entdeckt: Über dem Nebeneingang vom Altonaer Kinderkrankenhaus an der Bleickenallee hängt noch immer das Schild „Säuglingsmilchküche“, weiß lackiert und geschmiedet.
Auch sonst wird in Altona Tradition großgeschrieben – mit der klassischen gebrochenen weißen Schrift „Hamburger Abendblatt“ über den Fenstern des Erdgeschosses am Haus Königstraße 16. In jenem Gebäude war einst eine Abendblatt-Geschäftsstelle. „Anders als in meinen ersten Buch habe ich diesmal auch alle Hausnummern dazugeschrieben – falls ich 2030 noch ein drittes Buch machen sollte“, sagt Chris Campe.