Hamburg. Auch Instrumental- und Gesangsstunden finden derzeit digital statt. Warum das eine besondere Herausforderung ist.
Bis vor Kurzem hätte es bestenfalls Stoff für einen mittelkomischen Werbespot abgegeben: Kommt eine junge Frau in ein eher kleines Zimmer, stellt sich hin und gurrt und schmachtet die berühmte „Habanera“ aus Bizets „Carmen“. Für die Wand. Ohne Orchester und Dirigent natürlich, aber auch ohne Korrepetitor am Klavier. Und sowieso ohne Publikum.
Immerhin einer hört und sieht zu, der Lehrer nämlich. Aber auch der ist nur über einen Computer zugeschaltet. Onlinestunden sind bis auf Weiteres die einzigen verbliebenen Szenarien für Gesangs- oder Instrumentalunterricht.
Hamburg hat die Schließung der Musikschulen angeordnet, die Musikhochschule hat den Semesterbeginn fürs erste auf den 20. April verschoben, und privaten Präsenzunterricht fortzusetzen, ist zwar nicht direkt verboten, aber angesichts der Lage alles andere als opportun.
Und das Gebäude samt Überäumen bleibt für die Studierenden auch gleich geschlossen, was viele von ihnen vor Probleme stellt. Wer kann zu Hause schon in der gebotenen Dauer und Lautstärke Tuba üben, ohne irgendwann sämtliche Nachbarn gegen sich aufzubringen?
"Ein guter Lehrer ist der, der viele Methoden hat"
Nun läuft in diesen Tagen ja ohnehin über digitale Wege, was eben geht. Selbst die konservativsten Chefs beugen sich den Verhältnissen und ermöglichen Homeoffice, Kollegen verständigen sich in Videokonferenzen und über Chats. Aber lassen sich die Erfahrungen aus der Bürowelt ohne Weiteres auf andere Lebensbereiche übertragen? Musikunterricht ist etwas Ganzheitliches.
Die Beteiligten verbindet – ungeachtet der Ungleichheit der Rollen – eine Zweierbeziehung, und da geht es oft ans Eingemachte. Wie bei Freunden oder Paaren lebt diese Beziehung von der physischen Anwesenheit. Von den vielen unbewussten Abstimmungsprozessen, die sich in Sekundenbruchteilen abspielen. Fachleute schätzen, dass mehr als 90 Prozent unserer Kommunikation nonverbal ablaufen.
Zudem hat gerade die technische Seite des Musizierens viel mit Körperhaltung und Bewegungsabläufen zu tun. Deswegen gehört zur Demonstration Körperkontakt. Da stellt die Lehrerin den Finger des Cellokindes im richtigen Winkel auf die Saite, damit das Kind die Position über das Fühlen verinnerlichen kann. Oder die Studentin legt die Hände auf die Flanken der Professorin, um zu verstehen, dass sie wirklich dorthin atmet, wie sie es immer von ihr verlangt.
„Diese Ebene fällt beim Onlineunterricht weg“, sagt Ilse-Christine Otto, langjährige Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik und Theater und heute Professorin an der Leipziger Musikhochschule für Gesang sowie Methodik und Lehrpraxis des klassischen Gesangs. „Aber ein guter Lehrer ist der, der viele Methoden hat. Ich finde es sehr spannend zu sehen, wie viel Kreativität die aktuelle Situation freisetzt.“
„Onlineunterricht ist ein Kompromiss“
Not macht erfinderisch. Und Not ist tatsächlich da. Nicht nur, dass für viele freischaffende Musiker neben den Absagen ihrer Konzertengagements auch das Unterrichten als ihr zweites Standbein in Gefahr ist. Für Schüler und Studierende kann die Unterbrechung sehr problematisch sein. Es gibt Phasen in der Entwicklung der musikalischen Persönlichkeit, in der die Kontinuität des Kontakts mit dem Lehrer existenziell wichtig ist. Allzu störbar ist dieses Wachsen und allzu eng mit Klangvorstellung und -umsetzung verknüpft. Kinder binden sich ohnehin noch stark an die Person des Lehrers.
Für Jörn Dopfer, Gesangsprofessor an der Hamburger Musikhochschule, bringt die Aussetzung des Präsenz-Lehrbetriebs methodisch keine Umwälzungen mit sich. Er betreut schon seit Jahren junge Sänger aus der Ferne, etwa um sie für ein Vorsingen zu coachen oder während Auslandsaufenthalten.
„Onlineunterricht ist ein Kompromiss“, räumt er ein. „Ich kann verstehen, wenn Kollegen es ablehnen, so zu unterrichten.“ Er lenkt den Fokus auf Dinge, die auch über die Entfernung und unter widrigen Bedingungen funktionieren. Die Tonqualität der Video-Tools reicht für die Wiedergabe klanglicher Nuancen nicht aus? „Da kann ich dem Schüler nur sagen: Bei mir kommt das so und so an. Prüf doch mal, ob das nur die Übertragungsqualität ist – und mit so einem Hinweis kann er dann selbst arbeiten.“ Eigeninitiative ist gefragt, auf beiden Seiten. „Ich als Lehrer muss lernen, viel besser und klarer zu formulieren“, sagt Dopfer. „Gerade weil die Intimität der Unterrichtssituation nicht auf der nonverbalen Schiene entstehen kann, muss ich mich noch mehr in die Studierenden hineindenken und -fühlen.“
„Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, hatte ich auch Hemmungen“
Andreas Stier, freiberuflicher Klavierlehrer und Klavierprofessor an der Musikhochschule, ist erst durch die Coronakrise zum Onlineunterricht gekommen. Seine ersten Erfahrungen hat er mit seinen Privatschülern gesammelt. „Es ist natürlich ein Notbehelf“, sagt er. Über Klang und Dynamik könne er wenig rückmelden, weil sie bei der Übertragung nivelliert würden.
„Stattdessen beschäftigen wir uns mehr mit Struktur und Charakter eines Stückes.“ Stier setzt dann eben andere Akzente: „Wie hält sich jemand am Instrument? Ich kann sehen, wie der Anschlag ist. Ich sehe auch, wenn jemand beim Spielen hinter sich einen Schrank stehen hat. Dann kann er sich nicht frei ausdrücken. Die Bewegungsmuster sind sehr wichtig beim Klavierspielen.“ Dass er seine Schüler auch mal an ihren eigenen Instrumenten erlebt, findet Stier einen Gewinn.
Und wie fühlt es sich an, in eine Kamera zu singen? „Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, hatte ich auch Hemmungen“, sagt Dopfer. „Ich mochte es nicht, mich in dem Fensterchen zu sehen. Das ist aber Gewöhnungsfrage.“ Seine Studentin Annika Derlin dagegen hatte keine Hemmung. „Es war schon seltsam, nur das Abbild meines Lehrers vor mir zu haben. Ich war erst nicht sicher, ob er mich gut genug hören könnte. Aber ich hatte sehr bald den Eindruck, dass er sehr genau wahrnahm, was mein Problem war.“
Für die neunjährige Lotta ist der Kontakt über den Bildschirm inzwischen etwas fast Normales. Mit ihren Freundinnen muss sie facetimen, und auch ihre Geigenlehrerin hatte sich gleich zu Beginn des Ausnahmezustands mit dem Vorschlag gemeldet, den Unterricht online abzuhalten. „Ich war allein im Wohnzimmer und hatte das Tablet auf dem Notenständer neben den Noten liegen. So konnten wir uns sehen“, erzählt Lotta mit der größten Selbstverständlichkeit von der ersten Stunde. Komisch fand sie nur, dass die Stunde nicht bei der Lehrerin stattfand. „Es war ein bisschen, als ob ich übe, nur dass sie dabei war. Sie hat zum ersten Mal mein Zuhause gesehen, das war cool.“
.Angebote an Videokonferenz-Tools haben zurzeit Hochkonjunktur
All das setzt natürlich voraus, dass die Technik mitmacht. Angebote an Videokonferenz-Tools haben zurzeit Hochkonjunktur. Gar nicht so einfach, das richtige auszuwählen: Läuft es auf allen Endgeräten? Kann man die Stunde aufnehmen, um sie später noch einmal anzusehen? Wie ist der Klang? Verbreitet ist das Problem, dass man nicht gleichzeitig sprechen und den anderen hören kann. Das sind nur einige Fragen, von Fußangeln des Datenschutzes zu schweigen. Und das beste Tool nützt nichts, wenn das Datenvolumen nicht mitmacht. Am WLAN hängt doch alles in diesen Wochen.
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Ilse-Christine Otto hat Studierende schon online am Klavier begleitet. „Richtig zusammen musizieren kann man eigentlich nicht, wegen der Übertragungsverzögerung“, sagt sie. „Aber ein paar Stützakkorde spielen, und der andere singt dazu, das geht.“ Ist das die schöne neue Welt des ortsunabhängigen Musikunterrichts? Da ist sie skeptisch: „Mit einem Schüler, mit dem ich viel gearbeitet habe, dessen Verhalten und Marotten ich gut kenne, komme ich gut zurecht. Jemand Neuen nur per Bildschirm kennenzulernen, ist viel schwieriger.“
Die Initiative GitarreHamburg geht einen anderen Weg und stellt Lehrvideos ins Netz. Nicht nur für die eigenen Schüler, sondern für jeden und gebührenfrei.
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