Hamburg. Kirsten Boie wird 70. Ein Gespräch über den Umgang mit der unfreiwilligen Isolation und die Situation ihrer Autorenkollegen.
„Es war einmal ein kleines Mädchen“, beginnt Kirsten Boie ihr Büchlein „Das Lesen und ich“ und erzählt darin, wie sie selbst, das kleine Mädchen im Hamburg der 1950er-Jahre, das Lesen für sich entdeckte. Geschichten nämlich waren es, die ihm „den Alltag zum Leuchten brachten“. An diesem Donnerstag wird Kirsten Boie 70 Jahre alt – und längst ist sie selbst es, die mit ihren zahlreichen Geschichten das Leben der Kinder weltweit bereichert.
Erst kurz vor Weihnachten war die Schriftstellerin im Hamburger Rathaus zur Ehrenbürgerin ernannt worden, die Feiern zu ihrem Geburtstag sind nun natürlich abgesagt. Im Interview erzählt Kirsten Boie, wie Eltern mit der aktuellen Situation umgehen können, welche Chancen in der unfreiwillig schulfreien Zeit liegen, warum Autoren jetzt nicht besser dastehen als andere Künstler – und gibt sogar trKuöstliche Lektüretipps.
Hamburger Abendblatt: Wie geht es Ihnen?
Kirsten Boie: Mir geht es prima, ich habe aber auch keine Schulkinder zu Hause zu versorgen…
Sie haben in dieser Woche 70. Geburtstag - so hatten Sie sich den vermutlich nicht vorgestellt. Was hatten Sie eigentlich vor?
Boie: Geplant war, mit der Familie zu essen. Wir überlegen jetzt natürlich, ob wir es wirklich machen sollen. Und es sollte eine Geburtstagsgala im Ernst Deutsch Theater geben, darauf hatte ich mich natürlich wirklich sehr gefreut. Es ist ja total geheim geblieben, was die eingeladenen Kinder dort aufführen wollten, ich war so neugierig! Aber ich denke, es ist die einzig richtige Entscheidung, so etwas abzusagen. Es wird also von Tag zu Tag weniger Feierei. Aber das ist nichts, was mich todunglücklich macht. Dass ich meinen Geburtstag nicht groß feiern kann - oder vielleicht auch überhaupt nicht feiern kann –, das ist ja nichts im Vergleich zu dem, was nun zum Beispiel auf die Eltern von Kindern zukommt, die berufstätig sind und jetzt irgendwie sehen müssen, wie sie den Alltag gestalten.
„Ich wünsche mir, dass wir ein Land der Leser werden“, haben Sie in Ihrer Dankesrede gesagt, als sie zur „Förderin des Buchs“ ausgezeichnet wurden. Es ist auch der allererste Satz in ihrem neuen Büchlein „Das Lesen und ich“. Wir alle müssen nun deutlich mehr Zeit zu Hause verbringen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass wir nun ungeplant zu einem Land der Leser werden?
Boie: Ich hielte es zumindest für einen Versuch wert. Die Kinder werden für die nächsten vier oder fünf Wochen, davon gehe ich aus, zu Hause sein. Von morgens bis abends. Und sie bekommen die Anweisung, sich auch nicht mit Freunden zu treffen. Kinder, die gern lesen, sind da regelrecht privilegiert! Wer in Bücher eintauchen kann und dabei an nichts anderes mehr denkt, der kann ja jetzt Stunden um Stunden in Ruhe lesen. Und es wäre jetzt vielleicht die Zeit, den anderen auch den Weg dahin zu ebnen. Wenn Eltern sowieso mit ihren Kindern zu Hause sind, gibt es vielleicht etwas ausgiebiger die Möglichkeit, ihnen vorzulesen. Für die, die bisher noch gar nicht vorlesen, ist das womöglich die Zeit zum Einstieg. Natürlich sind nicht in allen Haushalten Bücher verfügbar und die Büchereien sind geschlossen. Vielleicht hat man nette Nachbarn oder Freunde, die Bücher vor die Tür legen könnten. Wenn man einen E-Reader hat, kann man über die Büchereien auch Onleihe machen. Dann bekommt man die Bücher digital auf sein Lesegerät geliehen. Diese Möglichkeiten stehen aber längst nicht allen offen.
Sie erzählen in Ihren Büchern immer wieder auch schwere Themen für Kinder verständlich und Sie sind Pädagogin. Wie erklärt man Kindern im Grundschulalter diese Situation jetzt am besten?
Boie: Ich denke, das wissen die Eltern, die ihre jeweiligen Kinder kennen, vielleicht am besten selbst. Kinder werden ja unterschiedlich schnell panisch. Ich glaube, es ist nicht sehr schwer, ihnen zu erklären, dass da jetzt ein Virus unterwegs ist, der die Menschen sehr krank machen kann. Dass sie selbst wahrscheinlich gar nicht doll krank würden, sie würden vielleicht nur einen Husten kriegen, aber sie könnten Ältere oder Schwächere anstecken. Wir alle sollen darum aus Rücksicht aufeinander erst einmal in unseren Wohnungen bleiben. So irgendwie würde ich es erklären. Man muss sicher stark auf die Reaktion des Kindes achten.
Für manche Kinder ist es auch ohne erschwerte Bedingungen nicht einfach, wenn sie in die Schule kommen und lesen lernen sollen. Sie haben dann oft schon einige Fernseh- und Computerspielerfahrung, auch Erfahrung im schnellen Wechseln der Medien und im Zappen, was die Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit Frustration auszuhalten beeinflussen kann. Das wird nicht einfacher, wenn Familien jetzt lange und, wenn man kein Haus mit Garten hat, zwangsläufig viel drinnen aufeinander hocken. Wie können Eltern damit umgehen?
Boie: Ich habe natürlich keine einfache Lösung parat. Kinder sind ja auch unterschiedlich. Ich würde im Übrigen natürlich nicht nur das Lesen empfehlen, sondern auch Brettspiele zum Beispiel. Viel zu tun, was man aus Zeitgründen sonst nicht tun kann.
Die Kinder vor den Fernseher zu setzen, ist für manch einen womöglich trotzdem das Mittel der Wahl - denn arbeiten müssen die Eltern ja dennoch, selbst wenn sie das Glück haben, im Homeoffice zu sein.
Boie: Wenn es der KiKa wäre, den die Kinder dann schauen, wäre es ja schon mal nicht schlecht. Ich fürchte, dass es auch oft YouTube sein wird. Die Eltern können ja nicht die ganze Zeit dabei sein. Ich denke, manche Kinder gewöhnen sich jetzt eine Dauerberieselung an und es wird schwierig, da wieder herauszukommen. Je mehr sinnvolle, positive Angebote man machen kann, desto besser. Auf die Dauer hängt doch auch einem Kind YouTube zum Hals raus und es hat ein Bedürfnis nach Abwechslung. Dafür müssten Eltern sorgen. Natürlich auch vorlesen, auch mal länger vorlesen.
Was raten Sie denn, wenn sich auch ältere Grundschulkinder zwar sehr gern vorlesen lassen, aber trotzdem ungern selbst lesen?
Boie: Das höre ich häufiger. Ich rate erst einmal dazu weiter vorzulesen! Da gibt es keine Obergrenze! Zu Anfang ist der Grund, warum sie nicht gern selbst lesen, häufig, dass sie einfach noch nicht so gut selbst lesen können. Wir unterschätzen immer, wie gut man wirklich lesen können muss, damit es wirklich Spaß macht. Auch in der vierten Klasse können nicht alle Kinder so gut lesen, dass es wirklich Spaß macht. Man sollte dann unbedingt länger vorlesen - weil ja auch auf diese Weise bei den Kindern der Spaß an Texten und der Spaß an Büchern geweckt wird und bestehen bleibt. Sollten die Kinder dann irgendwann in die Situation kommen, dass ihnen niemand vorlesen kann, sie aber wissen wollen, wie es weitergeht...
Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen
- Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Händewaschen
- Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
- Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
- Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten, die Infektionssymptome zeigen
- Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind überflüssig – sie können sogar umgekehrt zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen
Der beste Trick: mit einem Cliffhanger aufhören!
Boie: Genau! An der spannendsten Stelle aufhören und das Kind seinem Schicksal überlassen. Es funktioniert natürlich nicht immer, Kinder sind ja auch nicht blöd. Ach, echte Geheimtricks gibt es eigentlich nicht.
Sie sagen immer wieder, Ihr Plädoyer FÜR das Lesen sei keines GEGEN Filme. Trotzdem haben Filme und Spielkonsolen es oft so viel einfacher als Bücher. Wie kommt man gegen den Sog dieser Medien an?
Boie: Der Sog ist ja total nachvollziehbar. Man muss sich viel weniger anstrengen, wenn man diese Medien benutzt. Und Filmbilder sind so kraftvoll! Die packen wirklich total. Ich kann das nachvollziehen. Ich netflixe selber, ich muss mich auch manchmal bremsen. Wenn man Kindern zu Anfang einfach sehr wenig von diesen Medien anbietet, ist es sicher besser. Ich würde mir wünschen, dass kleine Kinder - sagen wir: bis etwa 3 Jahre, ganz genau will ich mich da nicht festlegen - erst einmal gar keine Berührung mit Tablets und ähnlichem haben, sondern nur mit Büchern. Dass man sie umblättern lässt, Bilder mit ihnen anschaut. Ich denke, in der Reihenfolge sollte das Buch zuerst kommen - einfach weil es das Medium ist, zu dem der Zugang schwerer zu finden ist. Es ist für Eltern schwer, solche Regeln einzuführen, weil sie denken, sie verbieten zu viel. Aber Eltern müssen das Leben ihrer Kinder regulieren, sie verbieten ihnen ja auch auf den heißen Herd zu fassen.
Hören Sie eigentlich von Buchhändlern oder Kollegen, wie es denen jetzt gerade ergeht?
Boie: Lesungen werden ja überall abgesagt, das ist natürlich traurig. Für die kleinen Buchhandlungen wird es schon eine kritische Zeit. Auch für Autorenkollegen. Häufig können die ja gar nicht aus den Einnahmen ihrer Bücher leben. Die Honorare sind keineswegs hoch, sondern – erst recht bei Kinderbuchautoren – relativ gering. Weil Kinderbücher sehr viel günstiger sind, aber zum Beispiel auch, weil ja auch die Illustratorin etwas am Buch mitverdient. Viele Kollegen kommen nur durch Lesungen über die Runden, sei es an Schulen, sei es in Büchereien.
Man hat die Vorstellung, dass es Autoren in einer Situation wie dieser womöglich besser ergeht als Schauspielern, weil sie sich zum Arbeiten ohnehin allein an ihren Schreibtisch setzen müssen. Man denkt da im ersten Moment gar nicht an den direkten Kontakt mit einem Publikum.
Boie: Aber so ist es leider nicht. Im Kollegenkreis herrscht teilweise die nackte Panik. Wenn es noch eine Weile so weiter geht, ist es für viele nicht bewältigbar. Um mich muss sich niemand Sorgen machen. Um andere schon.
Darüber dass öffentliche Bücherhallen jetzt geschlossen haben, haben wir schon kurz gesprochen. Sie sind ja nicht nur Orte, in denen man sich mit Büchern versorgt, sie sind auch Orte der Begegnung. Was hat das für Auswirkungen?
Boie: Das kann nicht nur für Kinder, sondern gerade auch für ältere Menschen eine massive Einschränkung bedeuten. Man kann sich dort sonst austauschen mit anderen, mindestens mit den Bibliothekarinnen. Es ist ein Ziel, gerade auch für allein lebende ältere Menschen. Aber eben die sollen jetzt ja vor allem zu Hause bleiben.
Auch hier kann das Lesen tröstlich sein. „Jede Lektüre ist wie eine kleine Psychotherapie“ schreiben Sie in ihrem neuen Buch.
Boie: Davon bin ich fest überzeugt. Weil man sich bei jeder Lektüre unbewusst – oder auch bewusst – mit sich selbst auseinandersetzt. Die Geschichten können nur lebendig werden, wenn ich sie mit meinen eigenen Gedächtnisleistungen auflade. Deshalb suchen wir uns ja auch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bücher aus. Nicht jedes Buch passt immer. Es ist abhängig von unseren Erfahrungen. Um den Jahreswechsel habe ich ein Buch wiedergelesen, dass ich als Studentin langweilig fand. Es wurde aber so gepriesen, also habe ich es jetzt doch noch einmal zur Hand genommen - und ich finde es nur großartig! Das hat natürlich mit meiner Lebenserfahrung zu tun. In einer schweren Krisensituation will ich sicher etwas anderes lesen als im Sommer auf einer Strandliege.
Wenn Lesen tröstlich ist – haben Sie aktuell eine konkrete Empfehlung?
Boie: Da muss ich überlegen, ich lese gerade immer so anstrengende Sachen! (lacht) Aber wie wäre es vielleicht mit den klugen, unterhaltsamen Romanen „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen? Und als geografisches Kontrastprogramm das wirklich sehr schöne Buch aus Kinderperspektive „Wir brauchen neue Namen“ der simbabwischen Autorin Noviolet Bulawyo?
Sie selbst sind ja, wie alle anderen, jetzt auch mehr zu Hause. Wie nutzen Sie persönlich diese Zeit?
Boie: Ehrlich gesagt: Im Moment ist es hektischer als sonst, weil so viel umorganisiert werden muss! Aber das wird ja in einer Woche vorbei sein. Dann hoffe ich auf viel Zeit zum Schreiben und viel zum Lesen. Zu einem wachen Zeitpunkt richtig lange zu lesen, darauf freue ich mich sogar.
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Boie: Ich habe etwas Neues begonnen...
Die Fortsetzung von „Ein Sommer in Sommerby“ vielleicht...? Ich kenne ein neunjähriges Mädchen, das sich sehr freuen würde...
Boie: Soll ich Ihnen etwas verraten? Das hab ich schon geschrieben, es ist schon fertig… Bei so freundlichen Themen fällt mir das Schreiben leichter als bei schweren Themen. Ich stehe dann auch leichter vom Schreibtisch auf. Die Gefühle, die der Leser – hoffentlich! – beim Lesen hat, die habe ich beim Schreiben ja ganz ähnlich.