Hamburg. Das kulturelle Angebot, wie wir es kannten, ist durch die Corona-Krise zum Stillstand gekommen. Ein Essay zu Kultur und Krise.

Niemand muss Künstler oder Künstlerin sein. Die einzigen, die das anders sehen, sind die Künstlerinnen und Künstler selbst. Dabei gäbe es in unserer optimierungswütigen Gegenwart auch etliche andere Berufssparten, in denen die allermeisten lausig verdienen. Doch nun an werden wir alle – niemand weiß, bis wann - auch auf sehr viel Kultur verzichten müssen. Und wohl sehr viele Künstlerinnen und Künstler auf das, was uns ihre Arbeiten wert sind. Bild für Bild, Note für Note, Satz für Satz, Szene für Szene.

Obwohl: Arbeit wäre nicht das richtigste Wort. „Liebe“ trifft es besser. Denn John Lennon und Paul McCartney irrten sich mit der Song-Zeile „Can’t Buy Me Love“. Man kann sehr wohl: überall in den Konzertsälen und Konzerthäusern, den Clubs und Galerien, den Museen, Theatern und Kinos. Bislang zumindest funktionierte das, das System – trotz und wegen der Ungerechtigkeit, dass einige viel besser verdienen die meisten – hielt sich selbst am Laufen.

Corona-Krise: Kultur stärkt und stiftet Sinn

Jede Eintrittskarte, jedes gekaufte Buch, jede CD war auch ein Mikrokredit für unseren gemeinsamen Glauben an die sinnstiftende, sinnstärkende Kraft von Kultur. Ein Vertrauensvorschuss für die da vorn im Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit, die etwas tun, was wir nun mal nicht können, aber sehr mögen. Auf die wir neidisch sind, die uns zum Lachen bringen, zum Staunen, zum Weinen. Die uns zeigen, wo der Horizont ist, über den hinaus wir träumen dürfen.

Was dieser Verzicht auf kulturelle Eindrücke, mit und von anderen Menschen erlebt, in den nächsten Wochen mit uns machen wird? Keine Ahnung, woher auch. Neuland, für den ganzen Planeten. Wenn es stimmt, dass Kultur ein Lebensmittel fürs Gemüt ist, dann wird es genau dort zu Mangelerscheinungen kommen; bei manchen mehr und sofort, bei anderen weniger und später, bei einigen gar nicht. Wir werden es bald erleben. Es wird sich sehr sonderbar anfühlen, sich nicht mehr unmittelbar über das live Gesehene und Gehörte aufregen und austauschen zu können, weil es dieses Gemeinschaftserlebnis so vorerst nicht mehr gibt.

Corona wird uns emotional entschleunigen

Wir werden gezwungen sein, uns emotional zu entschleunigen, uns zu bescheiden mit dem, was Erinnerung wurde und was es bereits gibt. Es hat nun vorerst ein Ende mit dem nächsten rasant neuen Premieren-Eindruck.

Kalter, harter Entzug.

Womöglich können neue Formate zur ersten Lückenschließung beitragen. Krisen werden hoffentlich nicht nur erfinderisch machen, sondern auch solidarisch. Die einzige Leinwand, vor der sich nun alle problemlos versammeln können, ist das Kopfkino. Unser Kulturkonsum wird bis auf weiteres wohl vor allem aus der Konserve stattfinden müssen.

Bücher, Serien, Filme – Die guten Seiten von Corona

Das kann auch seine guten Seiten haben: Das gute Buch, das im Regal zustaubte und das man immer schon mal lesen wollte. Die Serien und Filme, die in den Streaming-Sortimenten abrufbereit sind, genug für Monate am Stück. Shakespeares Dramen im Original, Wort für Wort auf dem Sofa genießen und nicht in enge Theaterstühle eingepfercht? Kein Problem, ihn und Goethe und Schiller und Tolstoi und überhaupt alles und jeden könnte das Internet zum Verzehr in den eigenen vier Wänden auf ein digitales Endgerät holen. Zu aktuellen Hits kann man zur Not auch im Wohnzimmer durchdrehen.

Wir dürfen nicht. Wir! Müssen! Verzichten!

Und erst die Klassik! Ungestraft in jede leise Stelle husten, zwischendurch die Pausentaste nutzen für den Getränkenachschub, Interpretationsvergleiche auf Knopfdruck und ohne Zuzahlung. Außerdem hat für die Herstellung dieser Eindrücke bereits jemand gezahlt. Es könnte so schön sein. Ist es aber nicht. Denn all das ist letztlich nur Methadon. Weiße Salbe. Das kann die Symptome lindern, die Ursache wird bleiben. Wir dürfen nicht. Wir! Müssen! Verzichten!

Dadurch wird unsere Sehnsucht nach dem Original stark werden und mächtig. Der Phantomschmerz hat schon begonnen, an einem Freitag, den 13., ausgerechnet. Komplett ohnmächtig und akut hilfsbedürftig sind ab sofort etliche Künstlerinnen und Künstler (und mit ihnen auch alle, die ihnen Kunstproduktion ermöglichen). Die Schauspielerin, die zwischen ihren Proben noch kellnert. Der junge Pianist, der süchtig ist nach Bühnenluft. Die Band, die fröhlich mit einem keuchenden Kleinlaster zum nächsten Auftritt rumpelt. Sie haben ja alle nichts falsch gemacht.

Simon Rattle spielte schon gratis

Niemand von ihnen hat drei Konzerte hintereinander im Großen Saal der Elbphilharmonie versemmelt, keiner ist betrunken von der Bühne des Thalia-Theaters gefallen oder hat silberne Löffel in der Kulturbehörde geklaut und damit seine dringend benötigten Projektzuschüsse verwirkt.

Die ersten schönen Gegenwehr-Ideen gab es. Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker spielten gratis und publikumslos in ihrer Digital Concert Hall. Die Wiener Staatsoper und die New Yorker Met, um nur zwei zu nennen, streamen ihre Archiv-Schätze nun umsonst. Der RBB kündigte in Berlin an, bei abgesagten Veranstaltungen mit Übertragungen einzuspringen. Igor Levit gibt jeden Abend ein Klavierkonzertchen per Twitter. Der Ton der Premiere aus seinem Wohnzimmer war schlimm, der zentrale Gedanke war wichtiger: Weitermachen. Am Wochenende gab es Rzewksis „The People United Will Never Be Defeated“ zu hören.

Was wird mit den freien Künstlern?

Levit wird als seit Jahren international dauergebuchter Virtuose bei einem Konzert-Bannfluch finanziell besser über die Runden kommen als andere. Die festangestellten Musiker eines Opern- oder Rundfunkorchesters sind in einer anderen Situation als Freelancer, die sich von Bühne zu Bühne spielen, von Honorar zu Honorar. Die gerade über die Runden kamen, irgendwie. Eine Helene Fischer wird sich nicht fragen müssen, ob sie die nächsten Mieten bezahlen kann. Sie alle, die Stars und die Hoffnungsvollen, bereicherten bislang unser Leben.

Auf die Erstattung von bereits gekauften Eintrittskarten zu verzichten, wäre ein erster möglicher, karmaverbessernder Schritt. Es wäre ein weiterer Vertrauens-Vorschuss, ein erste Rate für die Erlebnisse, die nur dadurch wiederkommen werden.

"Kunst kann Verzweiflung lindern"

„Ich wage nicht zu entscheiden, ob Malerei die Welt verändern kann“, sagte der Maler David Hockney prophetisch gerade im „SZ Magazin“, „aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Kunst Verzweiflung lindern kann.“ Wir werden nun erleben müssen, ob das stimmt, ob es aber auch anders geht, als wir es gewohnt sind, und über welchen Zeitraum. Während der Finanzkrise war die Begründung für Banken-Rettungsschirme, sie seien „too big to fail.“ Es wurde geholfen. Die Menschen, die nicht nur in dieser Stadt für uns alle Kultur schaffen, sind jetzt „too important to ignore“.

Ein Luxusproblem ist das nicht, sondern auch eine zentrale ökonomische Katastrophe, die Unmengen von Arbeitsplätzen und Lebensläufen betrifft. Und wenn Deutschland nicht nur eine behauptete Kulturnation sein will und Hamburg nicht nur eingebildete Kulturmetropole, ist klar, wie viel umgehend und nicht bald passieren muss.

Wie es sein wird, wenn die Kultur-Quarantäne endet, wenn die Kultur-Landschaft und damit auch das Leben sich wieder normalisiert? Jede Wette: Es wird ganz wunderbar werden, rührend und umwerfend. Wir alle werden spüren, wie viel uns damit zurückgegeben sein wird. Der erste donnernde Beifall am Ende einer großen Sinfonie in der vollbesetzten Elbphilharmonie; die Jubelschreie in einem Club auf dem Kiez, in dem man die dickflüssige Luft wieder bedenkenlos schneiden kann; der Moment, in dem der Vorhang im Schauspielhaus-Vorhang sich vor einem Drama senkt? Glück, Gänsehaut, Tränen. Ehrenwort.