Hamburg. Von den Grauen des Mittelalters bis zur Gegenwart: Auszüge aus „Der bleierne Sarg“ von Thomas Frankenfeld können Sie hier lesen.

Während des Dreißigjährigen Krieges flüchtet sich in Wedel, wo eine tödliche Seuche grassiert, eine junge Frau vor Söldnern in das Haus von Freunden. Die sind schon an der Pest gestorben. Sie fürchtet, sich infiziert zu haben, und erinnert sich, dass der Pastor des Ortes ein Heilkundiger ist, der selber schon die Pest überlebt hat. Bei ihm will sie Hilfe finden.

Rund 380 Jahre später wird bei Reparaturarbeiten an der alten Kirche am Roland in Wedel eine Gruft mit einem aus massivem Blei gefertigten Sarg aus dem 17. Jahrhundert freigelegt. In dem zugelöteten und mit einer unbekannten Flüssigkeit gefüllten Behältnis schwimmt eine Leiche.

Einer der Arbeiter greift in ein Loch dieses Sarges – und wird mit einem unbekannten, hochaggressiven Erreger infiziert. Es stellt sich heraus, dass der Erreger eine Chimäre ist – eine zufällig entstandene Mischform aus dem Pest-Bakterium und dem Ebola-Virus. Dagegen gibt es kein Mittel.

Erreger wird zur Bio-Waffe

Eine Terrorgruppe, Ableger des sogenannten Islamischen Staates, verschafft sich den Erreger und setzt ihn als Bio-Terrorwaffe ein – und als Druckmittel, um einen ihrer Feldkommandanten aus einem Hamburger Gefängnis freizupressen. Der Deutsche hatte in der vom IS eroberten Stadt Mossul bestialisch gewütet.

Während das Bernhard-Nocht-Institut fieberhaft an einem Impfstoff gegen den Erreger arbeitet, versuchen der Archäologe und Anthropologe Tristan Lindberg, ein kriegstraumarisierter Ex-Elitesoldat, und Rebecca „Becca“ Shahin, Hauptkommissarin vom Kieler Landeskriminalamt mit syrischem Migrationshintergrund, die Hintermänner der Anschläge zu finden und die historischen Hintergründe der Chimäre aufzuklären.

Abertausende Tote mitten in Hamburg

Sie stoßen dabei immer wieder auf das Universalgenie Johann Rist – Wedels Pastor im Dreißigjährigen Krieg, der außerdem Alchimist, Dichter, Chronist, Politiker im Range eines Pfalzgrafen, Apotheker, Arzt und vieles mehr war. Seine damalige Forschung könnte wertvolle Hinweise für einen Impfstoff liefern ...

Lindbergs und Shahins Kampf gegen die IS-Gruppe wird zu einem tödlichen Wettlauf mit der Zeit, denn die Terroristen planen nach einigen kleineren Test-Anschlägen eine massive Attacke mitten in Hamburg mit Abertausenden Toten … Es kommt zu dramatischen Kämpfen. Auszüge auf dem neuen Thriller „Der bleierne Sarg“:

Prolog: Juni 1643, Wedel in Holstein

Gesche Carstens rannte. Ihre nackten Füße flogen über den harten, staubigen Boden und trommelten darauf ein wildes Stakkato. Ihr Atem ging in keuchenden Stößen, aufgelöstes, verschwitztes Haar flatterte ihr hinterher wie ein dunkles Banner. Die junge Frau bemerkte weder, dass sich spitze Steine in ihre Sohlen gruben, noch, dass die scharfen Dornen einer Hundsrose ihre Waden aufrissen und rote Spuren hinterließen. Sie rannte um ihr Leben.

Als sie das geduckte Ziegelgebäude des Jacob’schen Hofes erreichte, der eine halbe Meile nordwestlich der Stadt Wedel lag, warf sie einen gehetzten Blick zurück. Ihre Verfolger hatten an Boden verloren, behindert durch das Gewicht ihrer ledernen Wämser und stählernen Waffen. Doch sie mussten jeden Moment am Waldrand auftauchen, und die Magd wusste, was ihr dann bevorstand. Einerlei, ob es Brandenburger, Österreicher, Schweden oder andere Heere waren – die Truppen in diesem seit vielen Jahren hin- und herwogenden Gemetzel, das man später den Dreißigjährigen Krieg nennen würde, hausten allesamt unmenschlich in den umkämpften Gebieten. Ganze Landstriche waren bereits entvölkert, Dörfer und Städte in Schutt und Asche gesunken. Ausgerechnet die Bauern, die sich täglich den Rücken krummschufteten, um eine karge Mahlzeit auf den Tisch stellen zu können, standen bei den Söldnerheeren im Verdacht, Schätze in ihren Häusern zu horten. Wie viele von ihnen in die brennenden Kamine ihrer eigenen Häuser gehängt oder mit dem grauenhaften „Schwedentrunk“ zu Tode abgefüllt worden waren, um angebliche Wertsachen preiszugeben, vermochte niemand zu sagen. Abertausende waren es gewiss. Kaum eine Frau, kaum ein halbwüchsiges Mädchen blieb auf dem Lande von der Schändung durch die grausame Soldateska verschont.

Gesche hatte die Gier und die Erbarmungslosigkeit in den Augen ihrer Verfolger gesehen. Verzweifelt warf sich die junge Frau gegen die grob gehobelte Fichtentür des Hofes und fiel erschöpft in die dämmerige Diele hinein. Sie wusste, wie auf vielen anderen Höfen gab es auch in diesem Haus geheime Winkel, in denen sich Menschen vor den Hunden des Krieges verbergen konnten.

„Freder …?“, rief sie halblaut, und dann noch einmal.

Im Haus blieb es jedoch ruhig, geradezu totenstill. Vorsichtig warf sie einen Blick zur Tür hinaus. Ihre Verfolger waren noch nicht zu sehen. Doch aufgegeben hatten sie gewiss nicht, dieser Illusion gab Gesche sich nicht hin. Sie tat ein paar Schritte in den stillen Raum hinein – und erstarrte. Diesen widerlich süßlichen Geruch kannte sie nur zu gut. Jeder in diesen unmenschlichen Zeiten kannte den Hauch des Todes.

Die junge Magd schritt eilig über den Boden aus gebrannten Ziegelsteinen hinweg, vorbei an der gemauerten Herdstelle, in der ein paar Scheite glommen, bis sie einen hölzernen Torbogen erreichte, der einen weiteren Raum mithilfe eines groben Wollvorhangs abtrennte.

„Freder? Janne?“, rief sie leise und schob dann zögernd den Stoff ein Stück beiseite.

Entsetzt keuchte sie auf bei dem Anblick, der sich ihr bot, und stolperte einen Schritt zurück. Als sie sich zur Flucht wandte, prallte sie hart gegen einen Menschen. Sie schrie. Eine Hand packte ihren Hals mit grobem Griff, erstickte gurgelnd ihren Schrei.

„Da haben wir das Täubchen ja endlich. Nun, nach einer guten Jagd schmeckt die Beute gleich noch viel besser“, grinste der Söldner, der sich mit seinen Kameraden lautlos in die Diele geschoben hatte.

Sein Atem stank nach verrotteten Zähnen und billigem Wein, in der rechten Hand hielt er einen Dolch. Er trug ein schwarzes Lederwams mit eisernen Nieten, und an seinem Gürtel hing ein abgenutzter Katzbalger, das kurze Schwert der Landsknechte. Gesche starrte mit geweiteten Augen auf die schartige, aber scharf geschliffene Klinge, die sich ihrer Kehle näherte. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, den vier Männern zu entkommen. Es sei denn, sie handelte jetzt sehr entschlossen.

„Ihr habt mich also gefunden“, presste sie heraus. „Und den Tod noch gleich dazu.“

Der Söldner runzelte verwirrt die Stirn, als sie ganz dicht an ihn herantrat. Die Spitze des Dolchs ritzte ihre Haut; sie spürte, wie ein dünnes Rinnsal Blut an ihrer Kehle herablief. Die junge Frau lächelte, hob die Arme und legte sie um den Hals des Mannes. Er starrte sie an, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er ihren Rock befingerte. Das Grinsen erlosch jedoch jäh, als sie sich kraftvoll nach hinten warf und dabei zur Seite drehte. Der überrumpelte Mann geriet aus dem Gleichgewicht und wurde durch den Vorhang auf die dahinterliegende breite Bettstatt katapultiert. Mit einem rüden Fluch auf den Lippen schnellte er sogleich wieder in die Höhe.

„Bei allen Dämonen – das ist ja die Teufelspest!“

Ein Pest-Bakterium in extremer Vergrößerung – der eine Teil des fiktiven Erregers.
Ein Pest-Bakterium in extremer Vergrößerung – der eine Teil des fiktiven Erregers. © picture alliance

Die anderen Söldner blickten an ihm vorbei auf die Bettstatt. Dann prallten sie mit gutturalen Lauten zurück und stürmten, sich gegenseitig roh aus dem Weg stoßend, aus der Tür. Ihr Kamerad im schwarzen Wams starrte einen Herzschlag lang seine Hände an, mit denen er sich auf der Bettstatt abgestützt hatte. Dann hob er den Blick zu Gesche Carstens, in dem Hass und blanke Angst standen. Er sah sich nach seinem Dolch um, aber der lag nun auf dem Bett. Der Schwarze wich rückwärts vor der jungen Frau zurück, dann wandte er sich ruckartig um und floh mit wilden Sätzen aus dem Haus, wie von Furien gehetzt.

Gesche stand ein paar Sekunden wie gelähmt da. Schließlich drehte sie sich um und zwang sich dazu, noch einmal auf das Bett hinunterzublicken. Dort lagen sie – Freder, Janne und ihre vier Kinder. Der alte Gerolf, Freders Vater, hing halb von seinem schlichten, strohbedeckten Lager an der gegenüberliegenden Wand herunter. Gesche begann, vor Entsetzen am ganzen Leib zu zittern. Doch sie konnte den Blick lange nicht abwenden: von den Blutlachen, in denen die sieben Menschen lagen. Von den im Todeskampf aufgerissenen Mündern in den schwärzlich angelaufenen Gesichtern mit ihren blutigen Augäpfeln.

Endlich konnte die junge Frau die Lähmung des Schocks abschütteln. Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Ein Gedanke brannte in ihrem Kopf wie ein loderndes Feuer: Hatte sie sich angesteckt? Das würde den sicheren Tod bedeuten! Es hieß doch, diese entsetzliche Pest könne sogar die Luft selbst mit ihrem todbringenden Miasma vergiften. Der Pastor! Wenn einer ihr noch helfen konnte, dann der Pastor! Sagte man nicht von ihm, er hätte sich selbst von der Pest geheilt? Und sogar Tollwütige von der tödlichen Krankheit befreit? Hoffentlich war er noch nicht geflohen wie so viele andere. Gesche Carstens sprang zur Tür hinaus und rannte. Sie rannte um ihr Leben.

Kapitel 1: 2019, Wedel in Holstein

Vorsichtig lenkte Waller den Wagen von der schmalen Zufahrtsstraße auf den kleinen Kirchhof. Der L200 RT wog zwar nur dreieinhalb Tonnen, aber bereits dieses Gewicht konnte ausreichen, um den dünnen Asphalt des Hofes zu beschädigen oder auf dem Rasenstreifen tief einzusinken. Waller manövrierte den Wagen geschickt um die kleine Grüninsel mit dem bronzenen Denkmal für Johann Rist herum, den berühmten Pastor und Heimatdichter aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er suchte eine geeignete Position an der Seite der Kirche, um den Teleskopausleger für die Dacharbeiten optimal ausfahren zu können.

„Das müsste so gehen, Chef“, sagte er.

Breckwoldt blickte noch einmal zum Dach hinauf, dann nickte er. „Ich denke auch. Fahr schon mal die Stützen aus, ich gucke mir das da oben mal an. Vielleicht sind da noch mehr Schieferplatten beschädigt.“

Der Dachdeckermeister stieg die drei Stufen aus verzinktem Stahlblech am Heck des Wagens hinauf, wobei er das verletzte Bein ein wenig nachzog, und schickte sich an, in den engen Arbeitskorb zu klettern. Gerade wollte Waller die vier Stützen herunterlassen, die den L200 RT bei ausgefahrenem Teleskopausleger stabilisieren sollten, als plötzlich ein dumpfes Knirschen ertönte und sich der Wagen ein paar Zentimeter Richtung Kirche neigte.

„Verdammt noch mal, Tim! Was machst du denn da?“, brüllte Breckwoldt und klammerte sich an das Gitter des Arbeitskorbes.

„Ich war das nicht, Chef, aber ich schau mal nach“, entgegnete Waller und ging um den Wagen herum.

„Scheiße!“, schrie er auf. „Das linke Vorderrad sackt hier irgendwo ein. Ich muss die Kiste zurücksetzen.“

„Warte mal, ich komme“, rief Breckwoldt.

Gerade wollte er die Stufen aus Profilblech hinabsteigen, als sich der L200 RT unter Knarzen und Poltern schlagartig einen halben Meter zur Seite legte. Breckwoldt wurde hart gegen den stählernen Ausleger geschleudert, stürzte auf den Asphalt und blieb stöhnend liegen. Waller konnte sich noch mit einem Sprung zur Seite retten. Der ganze Wagen sackte nun auf der linken Vorderseite krachend bis zur Achse weg und prallte mit dem Ausleger dumpf gegen das Kirchengemäuer. In einem Hagel aus Glas- und Holzsplittern zerbarst eines der hohen Fenster unter dem wuchtigen Schlag. Ein paar Scherben trafen Breckwoldt, der schützend die Arme über den Kopf hochriss.

Einen Moment lang starrte Tim Waller verblüfft auf die bizarre Szenerie. Das linke Vorderrad des L200 RT drehte sich langsam im Leeren. Es hing über einer tiefen Grube, die nun zwischen der Kirchenmauer und dem Fahrzeug gähnte. Waller trat näher heran, kniete sich hin und starrte in die Tiefe. Er kniff die Augen zusammen. Dort unten konnte er etwas Kantiges, grünlich Schimmerndes erkennen. Aber was war das um Gottes willen für ein unheimliches Ding? Ein Sarg?

Kapitel 12: 2019, Wedel in Holstein

Beide bezahlten, und Lindberg führte die Hauptkommissarin die paar Schritte zur Wedeler Kirche hinüber. Er ging voran. Als sie den schmalen, von Sträuchern eingefassten Weg entlangliefen, der kurz vor dem Gotteshaus endete, hörte der Archäologe hinter sich einen dumpfen Schlag und ein Keuchen. Er wirbelte herum – und starrte die Szenerie an, die sich vor ihm abspielte.

Becca Shahin lag auf den Knien vor ihm. Ein dünnes Rinnsal Blut lief über ihr Gesicht. Ein gedrungener Mann in schwarzem Trainingsanzug und Motorradmaske hielt ihr eine Schusswaffe an den Kopf. Glock 17, Rückstoßlader, Kaliber 9 x 19, Magazinkapazität je nach Typ 17, 19 oder 33 Patronen, lief es in Lindbergs Kopf automatisch ab. Einmal Soldat, immer Soldat.

Langsam hob er die Hände. Neben ihm aus dem Gebüsch trat ein ähnlich gekleideter Mann und richtete eine Waffe auf ihn. Beretta 92FS ..., begann das Programm in seinem Kopf. Lindberg sah Shahin direkt an. Eine Schockwelle raste durch sein Hirn. Ihre tiefschwarzen Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick brannte Löcher in seinen Verstand. Riesige schwarze Augen … Sein Sichtfeld verengte sich zu einem Tunnelblick, sein Herz hämmerte, ihm brach der Schweiß aus. Seine Hände begannen zu zittern.

„Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt“, hallte ein Flehen in seinem Kopf. Sekunden schienen sich zu Stunden zu dehnen, in denen er unfähig war, sich zu bewegen, er bekam kaum Luft.

„Tristan! Jetzt!“, schrie Shahin plötzlich gellend auf, griff nach der Pistole an ihrem Kopf und warf sich zur Seite.

Der laute Schrei weckte Lindberg schlagartig aus seiner Starre. Sein Gehirn war noch gelähmt, aber nun übernahmen seine antrainierten Reflexe. Sein rechter Unterarm beschrieb einen kurzen Bogen und fegte die Waffe zur Seite. Die linke Hand schoss gleichzeitig empor und schlug wuchtig gegen den Lauf. Lindberg konnte hören, wie der Zeigefingerknochen des Mannes vor ihm brach; er schrie auf. Die Pistole polterte zu Boden. Lindberg drehte sich, sein rechter Fuß rammte nach vorn; die Außenkante traf das Knie seines Gegners mit großer Wucht. Er hörte etwas reißen. Der Mann brüllte wie ein Stier und knickte sofort ein. Lindbergs linkes Knie knallte gegen die Schläfe des Angreifers.

Shahin hatte sich blitzartig aufgerichtet und drehte das Handgelenk ihres Gegners kraftvoll nach innen. Der Lauf der Glock zeigte nun von ihr weg. Lindberg knallte dem Mann fast gleichzeitig den Ellenbogen gegen den Kiefer. Der Maskierte fiel zur Seite und prallte dumpf auf den Boden. Lindberg sah verblüfft, wie Shahin ihn einen Moment lang nachdenklich musterte, sich dann bückte und dem Mann erst die Motorradmaske abnahm und dann die Trainingsjacke. Schließlich zog sie ihm auch noch das schwarze T-Shirt über den Kopf. Ein kantiges Gesicht kam zum Vorschein, die Haare des Mannes waren kurz geschoren, Hals und Brust tätowiert.

Shahin nickte, als habe sie eine Bestätigung erhalten. Sie wollte sich gerade dem zweiten Bewusstlosen zuwenden, als hastige Schritte hinter ihnen hörbar wurden.

„Da kommen noch mehr. Mindestens zwei. Ganz sicher bewaffnet. Los, weg hier!“, warnte Lindberg.

Er zog die widerstrebende Shahin, die jetzt ihre eigene Pistole in der rechten Hand hielt – und zu Lindbergs Verblüffung in der linken Faust ein schmales, dolchartiges Messer –, weg von den beiden bewusstlosen Männern am Boden. Sie rannten auf den Marktplatz am Roland, wo noch zahlreiche Menschen unterwegs waren. Eine Schlange von Autos stand an der Ampel der B 431, darunter ein Polizeiwagen. Lindberg sah sich um. Die beiden Verfolger blieben einen Moment stehen, dann zogen sie sich zurück – und verschmolzen mit den Schatten.

Kapitel 16: Juli 2015, Mossul, Irak

Der deutsche Arzt war seit Monaten nicht mehr als ein Sklave der Islamisten. Er hatte sich gefügt, denn er hatte gesehen, was mit Kollegen geschehen war, die sich aufgelehnt hatten. Und er hatte sich geschworen, alles zu tun, was von ihm verlangt wurde, um zu überleben und eines Tages nach Hause zurückkehren zu können.

„Nun?“, knurrte der Mann auf Deutsch, der ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte. An seiner Schulter hing eine Kalaschnikow AKS, ein russisches Sturmgewehr mit kurzem Lauf.

Der Arzt blickte den blonden Deutschen mit den schneekalten Augen an, der an die zwei Meter Körpergröße messen musste. Er wusste, dass dieser Mann, der sich selbst den Namen „Abu el-Hol“ – Vater des Schreckens – gegeben hatte, ein sadistischer Psychopath war, der in der Stadt ohne Zögern auch Frauen und Kinder erschoss.

Abu el-Hol hatte es innerhalb weniger Wochen zu einem gefürchteten Feldkommandeur des IS gebracht. Selbst die eigenen Leute scheuten sich, ihm in die Parade zu fahren.

„Die Kugel hat vermutlich innere Organe zerfetzt, der Mann hat starke Blutungen. Wir haben hier weder Röntgen- noch Ultraschallgeräte. Ich kann ihn weder vernünftig untersuchen noch behandeln. Es tut mir leid – ich kann einfach nichts für ihn tun.“

Der Blonde antwortete leise, aber mit einem bösartig zischenden Tonfall: „Du wirst ihn jetzt operieren. Und du wirst ihn retten – sonst werden ein paar Kugeln gleich deine inneren Organe zerfetzen. Und dann wirst auch du an starken inneren Blutungen sterben.“

Der Arzt wusste, dass ein Weigern seinen Tod zur Folge haben würde. Doch der Mann auf dem Tisch würde gleich tot sein. Ohnehin war er als Arzt für eine derartig schwierige chirurgische Operation im Bauchraum gar nicht qualifiziert. Aber das waren die meisten anderen Ärzte, die noch im Generalkrankenhaus freiwillig oder unter Zwang arbeiteten, auch nicht.

Über einen Anästhesisten verfügte der deutsche Arzt nicht. Er stülpte dem schwach stöhnenden Patienten eine Inhalationsmaske über das Gesicht und leitete Dampf ein, der aus dem flüssigen Narkosemittel Sevofluran gewonnen wurde. Es war eigentlich ein Narkosemittel für Kinder, aber das einzige, das den Ärzten hier noch zur Verfügung stand. Man hatte die Vorräte kurzerhand aus einem anderen Hospital geraubt.

Als der IS das Zentralkrankenhaus in Mossul gestürmt hatte, waren die Räume zunächst geplündert worden. Alles von Wert war herausgerissen und fortgeschleppt worden, Geräte und Medikamente – bis der IS das Treiben bei Körperstrafen verbot. Man benötigte schließlich medizinische Hilfe für die eigenen Kämpfer. Der militärische Druck auf die Terrormiliz wurde immer stärker.

Als der Patient in eine gnädige Bewusstlosigkeit sank, desinfizierte der Arzt den Bauch und öffnete ihn mit einem Skalpell. Bei dem entmutigenden Anblick, der sich ihm bot, ließ er das Messer sinken. Darm, Harnleiter und Blase waren mehrfach perforiert und zerrissen worden. Er sah den IS-Kommandeur an.

„Tut mir leid. Keine Chance. Der Mann hat nur noch ein paar Minuten.“

Abu el-Hol hob die Kalaschnikow. Der Arzt hatte das Gefühl, sein Inneres würde mit Eiswasser geflutet. Der bärtige Deutsche krümmte den Zeigefinger um den Abzug und jagte ein ganzes Magazin durch den Lauf.

In einer instinktiven Abwehrbewegung hob der Arzt die Arme vor das Gesicht. Die Kugeln pfiffen jedoch Millimeter an seinem Kopf vorbei und prasselten in eine Wand des Operationsraumes. Keramiksplitter und Querschläger sirrten durch die Luft. Ein paar IS-Sanitäter traten einfach mit gleichmütigen Mienen zur Seite. Sie waren derartige Gewaltausbrüche gewohnt.

Der IS-Kommandeur hob die Mündung der Waffe nun direkt vor die Drosselgrube des Arztes, die vertiefte Stelle unterhalb des Adamsapfels. Der Arzt wich zurück, bis er mit dem Rücken an den OP-Tisch stieß. Er schrie auf, als die heiße Mündung der Kalaschnikow in die Grube gedrückt wurde. Es zischte, der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase, aber er wagte es nicht, den Lauf beiseitezudrücken.

„Noch ein Versagen, und du wirst dir wünschen, an seiner Stelle zu sein“, sagte Abu el-Hol.

Der Lauf zuckte wie ein Zeigestock hinunter zu dem Sterbenden auf dem Operationstisch.

Kapitel 44: 2019, Hamburg

Wie ein roter Faden stellt sich das Ebola-Virus dar, der andere Teil des fiktiven Erregers.
Wie ein roter Faden stellt sich das Ebola-Virus dar, der andere Teil des fiktiven Erregers. © Getty Images

Auf Höhe des Liegeplatzes der „Cap San Diego“, die nun wieder fest vertäut lag, schoss ein Adler der Drohne entgegen. Der gewaltige Raubvogel stieg ein paar Meter über seinen künstlichen Gegner empor und stieß dann steil herab. Die riesigen Krallen griffen zu. Doch im selben Moment, als der Adler die Drohne schon sicher in den Fängen hielt, kippte er plötzlich zur Seite und fiel wie ein Stein herab. Kurz vor der Wasseroberfläche breitete er die Schwingen aus und flatterte hilflos torkelnd ein Stück, bis er, sich überschlagend, auf dem Deck einer kleinen Jacht landete. Er blieb zuckend auf der Seite liegen.

„Was zum Teufel war das denn?“, schrie Rautha in das Funkgerät. „Was ist denn mit dem Vogel los?“

„Die Drohne muss ein elektrisches Abwehrsystem besitzen. Sieht aus, als hätte der Adler einen heftigen Stromschlag bekommen“, sagte der Tiertrainer von „Guard from Above“.

„Scheiße!“, schrie Rautha wieder. „Abschießen können wir sie auch nicht – dann verteilt sich das Virus erst recht über halb Hamburg.“

„Moment Leute, wartet mal“, rief der Pilot des Hubschraubers ins Funkgerät, ein Mittvierziger namens Ulrich Weissmann. „Ich kann die Drohne aus demselben Grund nicht rammen. Aber ich habe eine andere Idee.“

Weissmann zog den zweimotorigen, fast drei Tonnen schweren Eurocopter EC135 steil in die Höhe und flog dann voraus. Die zweihundertsechzig Kilometer pro Stunde schnelle Maschine schoss voran und hatte die Drohne rasch wieder eingeholt, die nun bereits direkten Kurs auf die Menschenmenge an den Landungsbrücken nahm. Niemand der Abertausenden, die dort unbeschwert feierten, ahnte etwas von der tödlichen Bedrohung, die sich ihnen pfeilschnell näherte.

Weissmann blieben nur noch wenige Sekunden. Er setzte sich schräg über die Drohne und senkte die Maschine ab. Der Abwind der zehn Meter messenden Rotoren erfasste die Drohne. Sie schwankte und torkelte wild im Luftstrom, sackte auch einige Meter in die Tiefe, fiel aber nicht vom Himmel, sondern stabilisierte sich wieder. Die acht hochgezüchteten Elektromotoren waren zu stark.

„Der bleierne Sarg“ (Verlag Ellert & Richter, 384 S., 9,95 €) ist auch in der Abendblatt- Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, und unter shop.abendblatt.de erhältlich.
„Der bleierne Sarg“ (Verlag Ellert & Richter, 384 S., 9,95 €) ist auch in der Abendblatt- Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, und unter shop.abendblatt.de erhältlich. © Ellert & Richter Verlag

Ulrich Weissmann blickte auf das Foto mit seiner Frau Ragnhild und der zwölfjährigen Tochter Katy. Er stellte sich einen Moment lang vor, sie stünden dort unten in der Menge – nur Minuten von einer Ansteckung und einem qualvollen Tod entfernt. Er sah aus dem Cockpitfenster auf die Tausenden fröhlichen Menschen. Sein Plan B musste auf Anhieb funktionieren, sonst würden Tausende sterben.

Der erfahrene Pilot setzte den Helikopter schräg links neben die Drohne. Zentimeterweise verringerte er die Entfernung zu dem Fluggerät. Da er rechts im Cockpit saß, konnte er die rechte Kufenspitze seiner Maschine gut sehen. Inzwischen waren die beiden Drehflügler schon gefährlich dicht an die Landungsbrücken herangekommen. Der Pilot konnte kein Risiko eingehen; das Virus durfte die Menschenmenge auf keinen Fall erreichen. Es musste im Wasser landen – und zwar möglichst weit weg von den Menschen.

Mit den beiden Steuerungshebeln, den sogenannten „Sticks“, von denen sich einer links neben ihm und einer zwischen seinen Knien befand, manövrierte Weissmann die Kufenspitze mit geradezu chirurgischer Präzision direkt vor einen der Rotoren.

Dann stieß der EC135 schräg nach unten und spießte den stählernen Schutzring um den Rotor mit der Kufe auf. Der Propeller darin zerschellte in einem Hagel von Splittern, von denen einige gegen die Cockpitscheibe prasselten.

Weissmann betätigte den rechten Stick und ging zu einem schnellen Horizontalflug über. Die Drohne kippte zur Seite und hing nun an der Kufe wie ein Fisch in den Fängen eines Seeadlers. Die sieben verbleibenden Rotoren hatten der gewaltigen Turbinenleistung des Hubschraubers nichts entgegensetzen können.

Der Autor

Thomas Frankenfeld arbeitet seit 37 Jahren als politischer Journalist. Der Diplompolitologe, Sohn des Entertainers Peter Frankenfeld, war Außenpolitikchef und Chefautor des Hamburger Abendblatts. Von ihm ist auch das Buch „Leben ohne Humor ist witzlos“ erschienen. Frankenfeld ist mit der Journalistin und Buchautorin Bettina Mittelacher verheiratet. Das Paar hat einen Sohn und lebt in Wedel.