Hamburg. Joachim Gauck und Klaus von Dohnanyi diskutierten im Maritimen Museum über Migration – nicht immer kontrovers, aber kurzweilig.

Wirklich freie Menschen sind Politiker erst dann, wenn sie ihre Ämter niedergelegt haben – sie müssen keine Parteifreunde mehr fürchten, keinen Wutwellen widerstehen, keine Rücksichten nehmen. Mit Klaus von Dohnanyi und Joachim Gauck diskutierten am Montagabend zwei Freigeister im Maritimen Museum. Passend zur gleichnamigen Sonderausstellung, die derzeit mit großem Erfolg läuft, sprachen die beiden Altpolitiker über die „Flucht übers Meer – Von Troja bis Lampedusa“.

Allerdings hielten sich Dohnanyi und Gauck nicht lange in der Vergangenheit auf, sondern diskutierten die großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft. Es wurde eine Tour d’Horizon über Freiheit und Toleranz, Humanität und Verantwortung. Gauck erzählte den 80 Gästen, warum er in der DDR blieb, obwohl er neidisch das Leben der Republikflüchtlinge verfolgte. „Ich liebte die Freiheit und habe mich entschieden, in Knechtschaft zu bleiben“, auch wegen der „interessanten Aufgabe, dagegen zu sein“.

Klaus von Dohnanyi erinnerte an seinen Onkel und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der sich 1939 bewusst gegen ein Exil in den USA entschieden hatte, um nach Deutschland zu rückzukehren. Warum? Bonhoeffer, den die Nazis 1945 im KZ ermordeten, wollte in Deutschland Schlimmeres verhindern.

In diesen Momenten wurde das Deck 2 des Maritimen Museums zu einem Raum der Geschichte.

Gauck und Dohnanyi einig: Hilfe für Flüchtlinge klares moralisches Gebot

Rasch führte die souveräne Moderatorin Claudia Spiewak die Diskussion in die Gegenwart. Gauck wie Dohnanyi machten klar, dass Hilfe für Flüchtlinge und Verfolgte ein klares moralisches wie christliches Gebot sei. Und doch streuten sie in die Debatte immer wieder nachdenkliche und kritische Zwischentöne ein.

Der frühere Bundespräsident Gauck erklärte seinen Satz, der in der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 großes Aufsehen erregt hatte: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“. Damit, so Gauck, wollte er als Präsident ein Signal senden, auch über die Probleme der Migration zu sprechen. „Viele Bürger hatten damals das Gefühl, das Geschehen sei nicht mehr steuerbar.“ Sein Satz sei eine Hilfe für die Kanzlerin gewesen, keine Distanzierung.

Kritik an der deutschen Diskussionskultur

Auch Klaus von Dohnanyi stützte die Entscheidung der Kanzlerin, die Grenzen 2015 eben nicht zu schließen. Kritik aber äußerte er an der deutschen Diskussionskultur: „Wir brauchen mehr offene, mehr ehrliche, mehr mutige Debatten – dann werden sich manche Probleme schneller erledigen“, so der 90-Jährige. Dohnanyi forderte dazu auf, moralische Fragen immer auch praktisch zu diskutieren. „Die Moral lehrt uns, alle Schutzsuchende aufzunehmen, aber die praktische Vernunft sagt uns: Wir können es nicht.“

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Die Willkommenskultur könne nicht darin bestehen, noch eine Million und noch eine Million Migranten aufzunehmen. Der 79-jährige Gauck verwies darauf, dass die einst besonders offenen Skandinavier längst die Grenzen geschlossen hätten: „Diese Weitherzigkeit hat das Binnenklima verhärten lassen“, warnte der gebürtige Rostocker.

"Man muss Rechte stellen und sagen: 'Was redet ihr für einen Unsinn?'"

Er rief Medien und Politik dazu auf, Probleme mutiger zu benennen: „Das fürsorgliche Verschweigen vergrößert nur das Misstrauen.“ Im Sommer 2019 hatte er „eine erweiterte Toleranz nach rechts“ gefordert, womit er ausdrücklich sehr konservative Bürger, aber eben nicht Rechtsradikale meinte. Nicht jeder Wähler der AfD sei ein Antidemokrat, sagte Gauck. „Diskutieren wir. Das Argument lädt ein“, so führte der Autor des Buches „Toleranz: einfach schwer“ aus, das Beschimpfen aber grenze aus.

Auch Klaus von Dohnanyi forderte eine mutigere Debatte mit Rechten. „Man muss sie stellen und sagen: 'Was redet ihr für einen Unsinn?'“ Dohnanyi betonte, der Migrationsdruck werde in den kommenden Jahren noch steigen. „Die Größe der Herausforderung können wir noch gar nicht ermessen.“ Und Gauck fügte hinzu: „Wir brauchen Mehrheiten. Es hilft nichts, an unserer übergroßen Freundlichkeit zu scheitern.“

Gauck und Dohnanyi warnen vor zu großem Pessimismus

Beide warnten zugleich vor zu großem Pessimismus. „Wir bleiben ein solidarisches Land.“ Migration gehöre selbstverständlich dazu. Auf dem Darß, wo Gauck ein Ferienhaus besitzt, setzten die Gastronomen inzwischen schon Saisonkräfte aus Tadschikistan ein.

Oftmals lagen Gauck, den SPD, Grüne und FDP 2012 ins höchste Staatsamt gebracht haben, und der SPD-Politiker Dohnanyi auf einer Wellenlänge – weil sie aber mitunter gegen den derzeitigen Mainstream funkten, wurde der Abend nie langweilig. Und ganz am Ende gab es doch noch einen Dissens. Nachdem Gauck von Bayern als Vorbild für Integration wie Identität schwärmte, bremste ihn Hamburgs Bürgermeister von 1981 bis 1988: „Ich bin ein großer Freund von Bayern – aber nicht hier“, worauf der Norddeutsche Gauck kritisierte: „Ich mag die Überheblichkeit gegenüber dem Süden nicht.“

Das Gespräch wird in der Sendung „Der Talk“ auf NDR Info am Freitag von 21.05 bis 22 Uhr und am Sonntag von 16.05 bis 17 Uhr ausgestrahlt.

Die Sonderausstellung „Flucht übers Meer“ ist bis zum 2. Februar 2020 auf Deck 1 des Internationalen Maritimen Museums zu sehen und im Eintrittspreis enthalten. Am Mittwoch, Freitag und Sonnabend dieser Woche bleibt das Museum allerdings ausnahmsweise geschlossen.