Windhoek. Für das Festival-Projekt „Hereroland“ recherchierten Hamburger Theaterschaffende gemeinsam mit Kollegen aus Namibia.

Juni 2019, Namibia. Keine Zeitumstellung, kein Jetlag – man steigt abends in Deutschland ins Flugzeug und landet zur Frühstückszeit. Fünf deutsche Theaterschaffende, unter ihnen unser Schauspieler Jörg Pohl und Regisseur Gernot Grünewald, begeben sich auf Recherchereise nach Namibia, in jenes Land, das von 1884 bis 1915 die deutsche Siedlungskolonie Deutsch-Südwestafrika war. Die Ländereien waren damals, wie in der Kolonialzeit üblich, der eigentlichen Bevölkerung abgehandelt, abgetauscht oder konfisziert worden. Insbesondere das Volk der Herero, das mit großen Herden als Nomaden frei umhergezogen war, litt unter den Besatzern, die begannen, ihre Gelände einzuzäunen, und (ein für die Herero völlig unbekannter Umgang mit Boden) nicht mehr erlaubten, dass fremde Kühe auf ihrem Grund nach spärlicher Nahrung grasten.

Was mit Überfällen der widerständigen Herero auf die deutschen Farmer begann, führte zum Krieg mit der Entscheidungsschlacht am Waterberg 1904 und endete im Völkermord an den kämpfenden Herero sowie am ebenfalls Widerstand leistenden Nama-Volk. Circa 70.000 Menschen starben auf der Flucht durch die Wüste und in den Gefangenenlagern der deutschen Schutztruppen. Heute, über 100 Jahre später, verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über Entschädigung und Entschuldigung, während die Volksgruppe der Herero die Bundesrepublik am Gerichtshof in New York verklagt.

Kompliziertes Thema

Das Thalia Theater hat sich vorgenommen, dieses komplizierte Thema auf die Bühne zu bringen. Als Kooperation mit dem Nationaltheater in Windhoek und gefördert vom TURN-Fonds der Bundeskulturstiftung arbeiten namibische und deutsche Theaterschaffende gemeinsam an einem Abend, der „Hereroland“ heißen und am 19. Januar in der Gaußstraße uraufgeführt werden wird. Gemeinsam bedeutet: zwei Regisseure (Dokumentarregisseur Gernot Grünewald und der Herero-Namibier David Ndjavera) und ein gemischtes Ensemble. Der Bühnenbildner ist deutsch, die Kostümbildnerin aus Namibia, Videokünstler deutsch, Musiker namibisch. Alle Beteiligten aus Namibia sind Herero.

Erstes Treffen in der Theaterschule in Windhoek. David Ndjavera unterrichtet hier. Er ist Regisseur, Schauspieler, Lehrer. Es gibt niemanden in Namibia, der allein vom Theatermachen leben kann. In Vorstellungsrunden und Gesprächen erfahren wir, welchen Einfluss die koloniale Vergangenheit für jeden der beteiligten Herero noch heute hat. Mehrere sind dabei, die einen deutschen Urgroßvater haben und noch heute einen deutschen Namen tragen. Einer von ihnen ist der Musiker Rudolf Schimming, der uns lachend erzählt, dass manch einer überrascht ist, wenn er nach einer schriftlichen Bewerbung sein Gesicht zum ersten Mal zeigt.

Vorbehalte gegen Deutsche

Das Thema Genozid an den Herero ist hochemotional besetzt und wird kontrovers diskutiert. Schauspieler West erzählt uns, dass sein „Feuername“ (fast jeder Herero trägt neben seinem offiziellen einen bildhaften Namen) auf Englisch „Wasted“ lautet. „Wasted“ bedeutet „verschwendet“ oder „weggeworfen“ und bezieht sich auf das, was die Deutschen mit seinem Volk gemacht haben. Immer wenn seine Großmutter ihn beim Namen nannte, musste sie weinen. So beschloss er, sich statt Wasted einfach West zu nennen, das hat einen positiveren Beiklang.

Noch hat West große Vorbehalte gegen uns Deutsche: „Jeder Weiße ist für mich ein Deutscher und jeder Deutsche erst einmal ein Feind. Ich freue mich, dieses Projekt zu machen, denn es ist meine Geschichte, aber einem Deutschen den Rücken zukehren möchte ich vorerst nicht.“ Klare Worte, die uns Bleichgesichter gleich noch mehr erblassen lässt.

Fisch geht als Gemüse durch

Nach dem Kennenlernen kochen wir zusammen. Die Namibier kochen Fleisch mit Knochen, das in einem Topf über das Feuer gehängt wird, und rösten Knoblauchbrot. Ich koche auf dem Gasherd Kürbis und anderes Gemüse. Dass drei von uns fünf Deutschen Vegetarier sind, wird von nun an zwei Wochen lang für Heiterkeit sorgen. Insbesondere die Herero, als Rinderzüchter, sind stolz darauf, wie viel Fleisch sie essen können. Hühnchen ist für sie eine Beilage und Fisch geht sogar als Gemüse durch. Alle können sich allerdings darauf einigen, dass das mitgebrachte Lübecker Marzipan einen guten Nachtisch abgibt.

Nach den Tagen des Kennenlernens in Namibias Hauptstadt reist das deutsche Team gemeinsam mit Regisseur David Ndjavera durch das Land, hinein in die Gebiete, in denen vor über 100 Jahren gekämpft wurde und in denen auch heute noch die meisten namibischen Hereros zu finden sind. Wir fahren über Stunden an Zäunen entlang, manchmal ziehen Kuhhirten mit einzelnen mageren Rindern zwischen Fahrbahn und Zaun entlang. Was liegt hinter den Zäunen? Farmland.

Aussterbende Gattung

Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und der Überwindung der Apartheid sind immer noch etwa zwei Drittel der kommerziellen Farmen und das ertragreichste Land in weißer Hand. Es gehört den Buren und den deutschstämmigen Siedlern, die hier Deutschländer genannt werden. Von Deutschland aus haben wir viele von ihnen kontaktiert und um Gespräche gebeten. Fast alle lehnten ab, manche schimpften per Mail und forderten uns auf, „bloß kein Öl ins Feuer zu gießen“.

Tatsächlich schafften wir es am Ende dennoch, mit fünf deutschstämmigen Farmern zu sprechen: Wir bekamen das Bild einer aussterbenden Gattung. Angeblich gibt es zwar die Bestrebung der „Deutschländer“, als eigener Stamm Namibias eingetragen zu werden, Fakt ist jedoch, dass der deutsche Farmer im Durchschnitt 68 Jahre alt ist und deutsche Schulen sich mehr und mehr auflösen. Das Land wird immer trockener, die Kinder – zum Studium nach Deutschland oder in die Schweiz gezogen – wollen nicht zurück, die Kritik der Bevölkerung am weißen Herrenmenschentum nimmt zu, dazu kommt die Einsamkeit des Farmlebens ... und das Internet funktioniert auch nicht richtig!

Präparierte Tiere als Raumschmuck

Fast könnte man Mitleid haben mit dieser Minderheit, die ihre Kinder vom sechsten Lebensjahr an in deutschsprachige Privatinternate schickt, die präparierte Tiere als Raumschmuck benutzt, nach deutschem Reinheitsgebot braut, Pfadfindergruppen etabliert und den Karneval hochhält. Fast könnte sich Wehmut einstellen, wären da nicht die Wellblechhütten-Townships, in denen es keinen Pool gibt, wo man lange für das Abzapfen von Wasser ansteht, in denen eine Großfamilie sich einen Raum teilt und viele eine Toilette.

Die insgesamt redseligen Deutschen (Hotel- und Ladenbetreiber, Vereinsvorsitzende, Stadtführer, Museumsleiter) könnten skurril sein, wäre nicht Regisseur Ndjavera immer wieder für unseren Fahrer und Tour-Guide gehalten worden, ganz gleich, als was er sich oder wir ihn vorgestellt haben, wäre er nicht auf einer Touristen-Lodge dazu aufgefordert worden, schon mal unser Gepäck zum Bungalow zu bringen, oder von einem stockfuchtelnden Museumsleiter beschimpft worden, als er nach einer Route fragte: „Was für ein Guide bist du, dass du nicht mal den Weg kennst ...!?“

Es gibt auch "andere" Deutsche

Nicht alle Begegnungen mit Deutschen waren so. Wir haben kluge, reflektierte Menschen kennengelernt, die sagten: Warum bezieht ihr uns nicht ein? Tut uns nicht als Ewiggestrige ab! Wir sind auch Namibier, schon unsere Eltern wurden hier geboren, und eine deutsche Heimat gibt es für uns gar nicht mehr!

Ich komme nicht umhin, auch sie zu verstehen. Dennoch hängt etwas schief, wenn Reichtum und Armut so weit voneinanderliegen und an Hautfarben gekoppelt erscheinen, wenn sich von mal zu mal mehr Scham einstellt, sobald wir mit David die nächste deutsch geführte Lodge oder Farm betreten. Wie können wir deutlicher machen, dass dies unser Kollege ist, auch wenn er (aufgrund des Linksverkehrs) meist den Wagen fährt?

„Hereroland“ während der Lessingtage

  • Intendant Joachim Lux baut seit Jahren die internationale Ausrichtung des Thalia The­aters aus. Unter dem Titel „Wem gehört die Welt?“ geht es bei den diesjährigen Thalia-Lessingtagen vom 18. Januar bis zum 9. Februar in Gastspielen und risikofreudigen Eigenproduktionen um akute Themen der Weltlage mit Schwerpunkten auf den Themen Postkolonialismus und Klimawandel (Karten zu 10 bis 79 Euro: T. 32 81 44 44).
  • Eine Produktion wie die deutsch-namibische Geschichte „Hereroland“ wäre vor einigen Jahren nicht möglich gewesen, so Lux. Nun gebe es ein geschärftes Bewusstsein und Fördergelder für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit.

Fünf Monate später, Winter in Hamburg: Die Namibier sind hier! Es wird gesprochen, gegessen, gelesen, man lernt sich kennen. Wir machen einen postkolonialen Stadtspaziergang, zeigen unseren Gästen das Afrika/Woermann-Haus mit dem fast nackten Krieger davor (allgemeine Albernheit), das kolonial-romantische Ausstattungsgeschäft Ernst Brendler (Irritation) und bestaunen Kontorhäuser (sieht teuer aus). Wir besichtigen den Michel, der außen mit Kupfer aus Südwestafrika gedeckt ist und in seinem Innern auf denkmalgeschützter Tafel der gefallenen Hamburger Helden in Afrika gedenkt.

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Unsere Autorin Christina Bellingen ist Dramaturgin am Thalia Theater.