Hamburg. In ihrem Roman „Kein Teil der Welt“ erzählt die Aussteigerin Stefanie de Velasco vom Inneren der Glaubensgemeinschaft.

Erst gibt es ein Wetterleuchten, dann zieht ein heftiges Unwetter über den Ort im Westen Deutschlands. In der eigentlichen Welt suchen die Menschen sich lediglich ein Dach über dem Kopf, um zu warten, bis Sturm und Hagel vorbei sind. Aber Esther und Sulamith leben in einem Paralleluniversum. In einer Welt, die unserer zum Täuschen ähnlich und in der doch alles fremd ist. Es gelten andere Gesetze. Und es gibt die große Erzählung vom Jüngsten Gericht, das nur die „Gerechten“ verschont, die „in der Wahrheit wandeln“.

Als es blitzt und donnert, glauben die Teenagermädchen, dass Harmageddon da ist, das Ende der Welt. So wie die anderen, die in ihrer Glaubensgemeinschaft leben. Die versammelt sich hektisch an dem schmucklosen Ort ihrer Zusammenkünfte, an dem sie nun hoffen, in ihr Himmelreich zu fahren. Aber dann geht die Welt gar nicht unter. Und ihr Haus Gottes fällt ganz einfach in sich zusammen. Ein simpler Erdstoß reicht dafür. Sie sind weltweit übrigens die Einzigen, die sich in diesem Moment für die eigene Rettung bereit gemacht haben.

Stefanie de Velasco verließ die Zeugen Jehovas im Alter von 15 Jahren.
Stefanie de Velasco verließ die Zeugen Jehovas im Alter von 15 Jahren. © imago images / Gerhard Leber | imago stock

Das ist das einzige Mal, dass die Erzählerin Stefanie de Velasco die Zeugen Jehovas wie einen ganz traurigen Witz aussehen lässt. „Nicht von dieser Welt“ ist der zweite Roman der 1978 geborenen Erzählerin, und er ruft ein Bündel von Assoziationen hervor. Erinnerungen an freundliche und hartnäckige Menschen, die mit „Erwachet!“-Parolen und „Wachtturm“-Heften durch Fußgängerzonen und Wohngebiete ziehen. An die Geschichten über Menschen, die keine Bluttransfusionen haben möchten, die keinen Geburtstag und kein Weihnachten feiern, die nicht mit auf Klassenfahrt gehen.

Der erste Roman über das Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas

Wie es ist, im Inneren der Religionsgemeinschaft zu leben, das entzieht sich der Kenntnis der meisten. Das könnte sich nun ändern, denn Stefanie de Velas­co hat den mutmaßlich ersten Roman über das Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas geschrieben. Die Autorin kennt die Zeugen Jehovas aus eigener Anschauung, verließ diese im Alter von 15 Jahren. Man geht also kaum fehl, wenn man behauptet: hier schreibt jemand über sein Lebensthema.

Erstmals literarisch in Erscheinung trat de Velasco im Jahr 2013, als ihr Debüt „Tigermilch“ erschien. Dort erzählte sie von zwei Freundinnen im multikulturellen Berliner Großstadtdschungel. Auch „Kein Teil der Welt“ ist, auf die einfachste Lesart reduziert, ein Freundinnen-, ein Coming-of-age-Roman. Aber eben mit dem Stempel der Außergewöhnlichkeit: Die Mädchen in diesem speziellen Buch wachsen unter der Anleitung von Menschenfängern auf. So wie Esther, aus deren (Ich-)Perspektive hier aus dem Inneren der Zeugen Jehovas erzählt wird.

Die mitreißende, dramatische Geschichte einer Befreiung

Dabei gerät der Autorin ihr Roman nicht zur Anklage; „Kein Teil der Welt“ ist die mitreißende, dramatische Geschichte einer Befreiung. Die Handlung treibt den Roman voran, gedankenvolle Passagen über das Wesen abgeschlossener Gruppierungen gibt es hier keine. De Velasco ist eine geschickte Arrangeurin von eindrucksvollen Szenen. Dabei wird in „Kein Teil der Welt“ vor allem der Alltag zweier Mädchen geschildert, die nacheinander – zunächst Sulamith, dann Esther – am strengen Glauben mit all seinen vom Mainstream so stark abweichenden Behauptungen zu zweifeln beginnen.

Der neue Roman von Stefanie de Velasco.
Der neue Roman von Stefanie de Velasco. © Kiepenheuer & Witsch Verlag | Kiepenheuer & Witsch Verlag

Es ist die Pubertät, es ist die erste Liebe, die den Ausbruchswunsch bei Sulamith weckt. Sie war, als der Eiserne Vorhang fiel, mit ihrer Mutter aus Rumänien nach Deutschland geflohen. Anschluss in Deutschland fanden sie durch Esthers Familie. Gerade Sulamiths gesundheitlich angeschlagene Mutter ist dankbar für das Identifikationsangebot, das die Jehovas bieten. Vom Paradies schwärmen die eifrig missionierenden Brüder und Schwestern ohnehin denen am intensivsten vor, die schwach erscheinen. Esther wiederum wurde in eine ursprünglich ostdeutsche Jehova-Familie hineingeboren. In Peterswalde, wohin die Familie nach der Wende zurückkehrt, gibt es in der emotionalen Brachlandschaft nach der Implosion der DDR viele, die sie zu bekehren hoffen.

Der Plot ist an manchen Stellen zu üppig

Die Romanarchitektur ist ausgefeilt, es werden zwei zeitliche und geografische Ebenen ineinandergeschoben. Eine Katastrophe reißt die beiden Freundinnen auseinander. Als sie von ihren Eltern eingepackt und mit nach Ostdeutschland genommen wird, muss Esther, nun auf sich allein gestellt, herausfinden, ob sie Zeugin Jehovas bleiben kann.

Der Plot ist an manchen Stellen zu üppig geraten, es braucht hier nicht jede Figur, um zu zeigen, welcher Anpassungsdruck bei der Gemeinschaft herrscht. Dennoch erzählt de Velasco anschaulich, wie viel Mut und Beharrungswillen dazugehören, um als junger Mensch, der ohnehin auf der Suche nach einer Identität ist, das eigene und erst allmählich als toxisch empfundene Umfeld zu verlassen. Deutlich wird auch, wie viel Selbstgerechtigkeit den religiösen Antrieb mitunter munitionieren muss. Durch die Biografie der Autorin ist die Authentizität des Stoffes verbürgt. „Dieses Lächeln, das sie alle im Gesicht tragen, so als hätten sie im Lotto gewonnen“, lässt de Velasco eine der Figuren über die Zeugen Jehovas sagen. Dabei sind es doch die Aussteiger, die den wahren Jackpot knacken.