Hamburg. Weniger Vögel gleich weniger Noten: NDR Elbphilharmonie Orchester interpretiert das Vivaldi-Werk neu und macht den Klimawandel hörbar.

Die Sologeige tiriliert, die Tuttigeigen locken und zwitschern zurück: So kennen wir unseren Vivaldi, genauer den ersten Satz aus dem „Frühling“, einem der vier Violinkonzerte, die der Komponist 1725 unter der Überschrift „Die vier Jahreszeiten“ veröffentlicht hat.

Oder doch nicht? Da fehlen doch Töne! Sollte sich jemand vertan haben? Mitnichten, die Noten sind mit voller Absicht entfernt worden. Genau um dieses Überraschungsmoment geht es nämlich Chefdirigent Alan Gilbert und den Musikern des NDR Elbphilharmonie Orchesters.

Notentext per Wetterdaten-Algorithmus digital bearbeitet

Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen ist der Bestand an Singvögeln um 15 Prozent zurückgegangen. Und das soll man hören. Am Sonnabend (16.11.) bringen die Künstler Vivaldis Zyklus in einer sehr speziellen Fassung zur Aufführung: Der zum Mitpfeifen bekannte Notentext – der Zyklus hat einen Stammplatz auf der Allzeit-Hitliste klassischer Kompositionen – ist mittels eines Wetterdaten-Algorithmus digital bearbeitet worden.

„Seit Vivaldis Lebzeiten hat sich die Natur verändert, deshalb spielen wir das Stück in einer veränderten Fassung“, sagt Alan Gilbert. „Wir bringen keine neue Botschaft, jeder weiß um die Klimakrise. Aber es ist wichtig, dass die Diskussion weitergeführt wird, dass das Thema in den Köpfen bleibt. Dazu wollen wir als Musiker beitragen.“

Klassik trifft Klima

Klassik trifft Klima. Die Idee klingt so einfach, als hätte jeder drauf kommen können. Die Realisierung freilich war höchst anspruchsvoll. Das Soundkonzept haben ein Berliner Studio für Musik und Sounddesign mit dem sprechenden Namen Kling Klang Klong und das Hamburger Studio Markenfilm Space gemeinsam erarbeitet.

Bereits im 18. Jahrhundert hat man Wetterdaten erhoben. Die älteste bekannte Aufzeichnung bezieht sich auf den CO2-Gehalt, sie stammt aus dem Jahre 1725. Fernando Knof von Kling Klang Klong und seine Kollegen haben aus zahlreichen Quellen geschöpft, um Daten zu Kategorien wie Windgeschwindigkeit, Hochwasser, Insektensterben und Temperaturanomalien zu sammeln.

Streicher aus murmelnden Quellen

Diese Werte haben sie aber nicht einfach irgendwie über die Partitur gelegt, sondern sich für jede Passage, die sie verändern wollten, einen eigenen Algorithmus, das heißt ein bestimmtes Berechnungsschema ausgedacht, das musikalisch Sinn ergibt. So macht eine Verdopplung der Streicher aus murmelnden Quellen eine bedrohlich anschwellende Flut. Und wenn im „Sommer“ in der Mittagshitze von fern ein Hund bellt, dann treten zu einer Bratsche nach und nach fünf weitere und zwei Celli dazu: Der Hund versucht den schlafenden Schäfer zu wecken. Tiere ahnen ja Naturkatas­trophen mitunter voraus.

„Das mussten wir planen, sonst klänge die Musik einfach nur kakofon“, erzählt Knof, der von Haus aus Musikwissenschaftler ist. „Wir verfolgen mit dem Projekt ja ein Anliegen. Es braucht eine Dramaturgie. Der ,Frühling‘ weist nur leichte Veränderungen auf, der ,Winter‘ zeigt: Es ist fünf vor zwölf.“

Wenn es ernst wird, sind die Posaunen dabei

Knof hat nicht nur den Notentext und die Harmonien verfremdet, er hat auch die Instrumentierung verändert. Das Original ist nur für Sologeige, Streichorchester und Cembalo geschrieben. Bei „For Seasons“ wächst die Besetzung auf die Stärke eines romantischen Sinfonieorchesters an, mit vollem Bläsersatz einschließlich Posaunen sowie Pauke.

„Wenn es ernst wird, sind die Posaunen dabei. Das ist schon bei Mozarts ,Don Giovanni‘ so, wenn der tote Komtur zum Abendessen kommt“, scherzt Simone Candotto, der Soloposaunist des Orchesters. „Da haben wir uns an den historischen Vorbildern orientiert.“ Candotto hat die veränderte Partitur so arrangiert, dass die Stimmen für die jeweiligen Blasinstrumente spielbar sind. Ein Honorar hat er dafür nicht genommen. Alle Musiker engagieren sich ehrenamtlich für das Projekt.

Klimadebatte erreicht Kulturbetrieb

Und dann? Was kommt, wenn die neuen alten Töne verklungen sind? Bereits im Sommer erreichte die Klimadebatte auch den Kulturbetrieb. Es steckt schließlich ein gewisser Widerspruch darin, wenn Künstler einerseits Klima­politik und Verbrauchergewohnheiten anprangern, andererseits fröhlich weiter mit dem internationalen Kulturkarussell mitfahren.

Wenn Dirigenten Chefposten auf mehreren Kontinenten versehen oder Opernproduktionen um die halbe Welt reisen. „Mir geht es auch darum, uns selbst unter Handlungsdruck zu setzen, indem wir mit dieser Initiative an die Öffentlichkeit treten“, sagt Alan Gilbert dazu. „Wir haben intern vieles auf den Prüfstein gestellt. Brauchen wir zum Beispiel noch gedruckte Programmhefte für unsere Konzerte? Es war interessant, wie viele Leute das bejahten, obwohl sich doch jeder im Internet informieren kann.“

Wenn das Orchester in der kommenden Woche auf Europatournee geht, dann wird es auch mit der Bahn reisen statt nur mit dem Flugzeug. „Es sind winzige Schritte, die wir machen“, sagt Gilbert. „Aber viele kleine Schritte können sich zu einer großen Bewegung summieren.“

NDR Elbphilharmonie Orchester:
„For Seasons“
Sa 16.11., 17.30, Elbphil­harmonie, Großer Saal, kostenlose Karten ab 12.11., 11 Uhr, im Internet unter www.forseasonsbydata.com und ndre.de/eo