Hamburg. Starautorin trat im Thalia Theater auf. Sie sprach über Unruhen in ihrer Heimat – und darüber, was ihr an ihrem neuen Roman missfällt.

War das nicht gerade die Andeutung eines Lächelns? Gerade, als Felix Knopp „Chile“ erwähnte? Was heißt erwähnte, er trug, Bedeutung in jeden seiner Sätze legend, ja vor: aus Isabel Allendes neuem Roman „Dieser weite Weg“, in dem das südamerikanische Land Sehnsuchtsort ist, Rettungsanker, ein neues Leben. Für Tausende Menschen, für Victor, den katalanischen Arzt, der vor Franco flieht, der spanischen Heimsuchung in Europas kriegerischster, in Europas diktatorischer Epoche Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und Allende, die in Kalifornien lebende chilenisch-US-amerikanische Schriftstellerin, spricht kein Deutsch, aber „Chile“ versteht sie in jeder Sprache.

Sie war nach Hamburg gekommen, um zum Abschluss des Harbour Front Literaturfestivals zu lesen. Ach, Quatsch, viel eher: um zu sprechen. Ausverkauftes Thalia Theater, mit Schauspieler Knopp eine deutsche Stimme aus der Thalia-Belegschaft mit auf der Bühne, dazu eine flott durch den Abend dirigierende Moderatorin Susanne Weingarten – da konnte sich die unterhaltsame Weltliteratur („Das Geisterhaus“) schreibende Starautorin Allende prima entfalten. Man konnte schnell feststellen, dass Allende alles andere als die scheue Dichterin ist, die nur unter Zwang die Schreibstube verlässt; ziemlich offensichtlich gespielt und dennoch charmant ihr entsetztes „What??“, als die „Spiegel“-Journalistin Weingarten sie zum Lesen des Romananfangs aufforderte.

Sprache ist Heimat

Es verstehe sie ja keiner, sagte die 77-Jährige kokett und rechnete mit nichts anderem als dem lautstarken Protest des Publikums. Es waren etliche aus Spanien oder Südamerika stammende Allende-Leser da, und die gierten nach wenigstens ein paar Sätzen Spanisch. Allende, die vielleicht berühmteste Chilenin der Welt, lebt seit Jahrzehnten in Kalifornien. Sie spricht also ein Spanisch gefärbtes, perfektes Englisch und braucht keinen Dolmetscher in ihrer Muttersprache. Das wäre vielen an diesem Abend lieber gewesen: Sprache ist Heimat, auch in Hamburgo.

In „Ein weiter Weg“ geht es um die Verheerungen und Kriege des 20. Jahrhunderts, die unter anderem zu einem Sachverhalt führten, den das nun auch schon fast zwei Jahrzehnte alte 21. Jahrhundert nur allzu gut kennt. Den Wanderungen und Fluchtbewegungen nämlich, hier romanhaft erzählt anhand dem Leben eines Mannes, der zunächst aus dem Bürgerkriegsspanien fliehen musste und später, dann, nach dem Militärputsch im Jahr 1973, aus Pinochets Chile. Wie Allende selbst übrigens, und ihre Romanfigur Victor Dalmau hat tatsächlich, wie sie im Thalia Theater erzählte, ein reales Vorbild, das sie einst in Venezuela kennenlernte. Allende, deren eigenes Leben ein Beispiel für Migration ist – sie sieht sich als privilegierte Emigrantin, die einst in ein damals fortschrittliches Venezuela kam, in der zudem ihre Sprache gesprochen wurde –, ist mit dem Roman und an diesem Abend die Botschafterin des aufgeklärten, menschenfreundlichen, liberalen Weltgeists. Eines Weltgeists, der zuletzt unter Druck geraten ist. Als Allende erklärte, wie wichtig es ist, dass das abstrakte Thema Migration ein Gesicht bekomme, zum Schicksal eines bestimmten Menschen werde, weil man dann feststelle, wie viel man gemeinsam habe und dass einem das auch widerfahren könne, brandete Applaus auf.

Ihre Bücher sollen keine Botschaft haben

Im Durchschnitt, so sagte es Allende mit Nachdruck, lebe ein Flüchtling heute ein Vierteljahrhundert fern der Heimat. Das bedeute, dass er ohne seine Kinder in eine Herkunftswelt zurückkehre, die ihm längst unbekannt sei.

Isabel Allende hat einen Auftrag, obwohl sie sagt, dass es in ihren Büchern genau darum nicht gehen soll – den Lesern mit einer Agenda kommen. Aber ist es etwa keine Botschaft, kein Winken mit den Zaunpfahl, wenn man in diesen Tagen einen Roman veröffentlicht, der vom zweimaligen Heimatverlust erzählt? Das Thema, erklärt Allende dann auch, „hat in der Luft gelegen“. Im Roman tritt auch der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda auf, der 1939 nach Paris geschickt wurde, um knapp 2000 spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach Chile einzuladen. Auch den Dampfer „Winnipeg“ gab es wirklich, Allende lässt ihren Helden Victor auf ebenjenem nach Südamerika gelangen.

Man kam an diesem Abend nicht umhin, erneut über das Leben der Isabel Allende zu staunen. Es wurde in seiner Dramatik, in seiner Tragik vor den Besuchern ausgebreitet, ganz einfach auch deswegen, weil Allende gerne redet, wie sie mehrere Male mit einer Portion Selbstironie kundtat. Sie lernte bei einem Interview 1973 Neruda kennen, der sie für die schlechteste Journalistin des Landes hielt, zu Ich-bezogen und nicht objektiv, und ihr empfahl, lieber Schriftstellerin zu werden. Geschichten wie jene spulte diese kleine und feine Dame ab, die wie die nette Tante vom Kaffeeklatsch wirkte, aber blitzschnell auf zotig und unanständig umschaltete. Es wurden halt auch viele Themen angeschnitten, nicht nur die unlängst erfolgte dritte Heirat Allendes, die zuletzt, wie sie bekannte, viele Kummer zu erleiden hatte. Die Mutter („Ich schrieb ihr jeden Tag“) starb, der Stiefvater, ein geliebter Hund. Der Verlust ihres Lebens war jedoch Anfang der Neunzigerjahre der Tod ihrer Tochter, die keine 30 Jahre alt wurde. Als sie die alten Briefe an ihre Mutter jüngst durchgesehen habe, erzählte Allende, „habe ich gemerkt, dass man Leben immer schon ein Melodrama war, eine Fernsehserie“.

„Aufsteigen ist unmöglich“

Sie streute ein paar lustige Bemerkungen („Beim Heiraten hat man in meinem Alter keine Zeit zu verlieren, es gilt, die fünf oder sechs Jahre, bis Roger dement wird, zu genießen“) ein, verwies darauf, wie wenig Sex in ihrem neuen Roman doch bedauerlicherweise vorkomme, all das zur Pläsier des Publikums, aber sie sprach dann eben auch über ihr Lebensthema Chile. Ihr Herz sei groß genug für Amerika und Chile, sagte sie zunächst noch verhältnismäßig allgemein, um dann auf die aktuelle Situation in Chile zu sprechen zu kommen.

In Chile, diesem Land mit einem starren Klassensystem, sagte Allende, „kann man leicht gesellschaftlich abrutschen, aber aufsteigen ist unmöglich, das schockiert mich immer wieder aufs Neue“.

Und auch deswegen gehen in Chile derzeit Millionen Menschen auf die Straße. Gegen die Politik Präsident Sebastián Pineras, gegen die soziale Ungleichheit, gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums. Sie sei auf ihrer Lesereise durch Deutschland mit ihren Gedanken in Chile, sagte Allende. Und erklärte den Hamburgerinnen und Hamburgern nicht nur ihre komplizierte Heimat, sondern auch, warum sie nicht selbst in die Politik geht: „Ich liebe mein Land, aber ich rede zu viel, und ich bin nicht gut darin, Kompromisse zu machen.“

Langer Applaus zum Schluss

Es muss tatsächlich besonders frustrierend sein, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu leben, und die starren Verhältnisse in der anderen, der eigentlichen Heimat so oft vor Augen zu haben. Ohne Trump („Er zerstört die demokratischen Institutionen Amerikas“) ging es auch an diesem Abend nicht, und auch nicht ohne so oft gehörte, aber leider so wahre Diagnosen wie jener, dass sich die Welt mit all ihren Populisten und Demokratieverächtern in einem gefährlichen Zustand befinde. Allende tat hinsichtlich der düsteren Gegenwart das, was ältere Menschen, die den Glauben nicht verloren haben, immer tun. Sie appellierte an die Jugend, sich zu engagieren. Sie kann uns retten, sagte Allende, „ich bin voller Hoffnung“.

Als sie nach anderthalb zügig vergangenen Stunden von der Bühne schritt, erhoben sich die Menschen im Thalia Theater. Langanhaltender Applaus für eine Schriftstellerin, die in zwei Welten zu Hause ist und deren Blick für ein bestimmendes Thema der Gegenwart geschärft ist.