Hamburg. Aus Anlass der Buchmesse in Frankfurt hat die Kulturredaktion aktuelle Bücher testgelesen. Und stellt einige der interessantesten vor.

Die Nobelpreise sind vergeben, mit Olga Tokarczuk und Peter Handke gibt es zwei würdige Preisträger für 2018 und 2019. Wobei die eine deutlich weniger kontrovers diskutiert wurde als der andere. Man hofft nach der werktechnisch bezogenen Ehrung nun inständig, dass sich der Serbien-Verteidiger Handke in den Wochen seines späten Weltruhms nicht zu neuen ärgerlichen Polit-Kuriositäten hinreißen lässt. Apropos: Auch der Deutsche Buchpreis ist einmal mehr an den Mann gebracht. Der Hamburger Saša Stanišić, ein gebürtiger und hinsichtlich der Handke-Kür massiv grollender Bosnier, hat ihn völlig zu Recht bekommen.

Neben der ausgezeichneten Literatur-Prominenz, die man nun neu oder wiederentdecken darf, gibt’s freilich noch mehr zu lesen. In den Spätjahrprogrammen der Verlage finden sich viele kleine und große Schätze, etliche von ihnen stammen aus Nordeuropa: Norwegen ist in diesem Jahr Gastland der Buchmesse.

Literarische Völkerverbindung

Was alle Fans royaler Begebenheiten freuen wird: Kronprinzessin Mette-Marit („Meine Mutter hat mir sehr früh viel vorgelesen“) und Kronprinz Haakon kamen wegen der Literatur nach Deutschland. In einem Sonderzug reisten etliche Autoren mit den norwegischen Royals, unter ihnen Jostein Gaarder und Maja Lunde. Insgesamt werden etwa 100 norwegische Schriftstellerinnen und Schriftsteller erwartet.

Noch schöner als diese literarische Völkerverbindung ist allerdings die „Renaissance des Buches“, die derzeit von einigen ausgerufen wird. Der Abwärtstrend bei den Buchverkäufen ist gestoppt. Man war ja geneigt, diesmal wirklich alle Unkenrufe ernst zu nehmen. Angesichts einer Branche, die recht gerne jammert, und das seit vielen, vielen Jahren, durfte man doch so etwas wie Sorge verspüren, wo Smartphone und Streamingportale den Lektürestunden so aggressiv zu schaffen machen. Also: Nichts reinigt den überreizten Geist, der längst eine erschöpfte Empfangsapparatur für tausendundeinen Internetklick ist, so gut wie eine Mußestunde mit Buch. Wir wünschen gutes Lesen. tha

Hommage an die Tante

Sie stirbt hochbetagt, ohne je richtig geliebt zu haben, und als demente alte Frau erinnert sie sich anfallsweise an die große Kränkung ihres Lebens: als der Vater sie, die dritte Tochter, wo doch so dringend ein Sohn erwünscht war, auf dem Amt als Jungen ins Register eintragen lässt und erst eine Woche später die Dinge richtigstellt. „Tante Martl“ (Piper, 20 Euro) ist der erste Roman der Literaturkritikerin Ursula März, und er ist das bestechende Porträt einer ganz eigenen Person, die in einer pfälzischen Kleinstadt aufwuchs, immer allein lebte und selbstbewusst war, ohne dass dies gelegentliche Gefühle des Deklassiertseins ausgeschlossen hätte.

Für die Erzählerin ist Tante Martl eine faszinierende Figur, und das nicht nur, weil sie der Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter ist. „Tante Martl“ ist eine Hommage an die Familie – und man darf davon ausgehen, dass hier vieles autobiografisch ist –, ein immer wieder berührendes Buch mit manchen komischen Passagen.

Beiläufig streift es auch 90 Jahre deutscher Geschichte, in denen sich das Leben der Tante abspielte. Sie war eine früh emanzipierte Frau und gerade deswegen keine Lebensverliererin. Im Gegenteil, die Erzählerin beschreibt die Würde, die dieses Leben hatte. In einer unaufdringlichen Sprache, die durchaus an manchen Stellen leuchtet. tha


100 Jahre Glück

Ein „langes und glückliches Leben“ habe jener oder jene gehabt, so sagt man gemeinhin, wenn man über Greise spricht. Implizit wohnt dieser Formulierung die Annahme inne, dass Glück und Zufriedenheit ein langes Leben begünstigen. Uralt werden, wie geht das?

Oder eigentlich: „Wie führen wir unser Leben so, dass wir glücklich oder zufrieden sein können?“ Das klingt, in abgeschwächter Form, wie die Kernfrage; um sie zu beantworten, sind Myriaden von Ratgebern geschrieben worden. Genau das ist „Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben“ (S. Fischer, 22 Euro) nicht, es ist viel eher ein lesenswertes Porträtbuch. Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer haben überall 100-Jährige (die Ü-100-Auswahl des Planeten, sozusagen) besucht, um sie von ihrem Leben erzählen zu lassen.

In Berlin, in New York, in der Schweiz und anderswo entblätterten sich vor den Autoren Lebensläufe, die von Brüchen gezeichnet sind, aber auch von Alltäglichkeit. Erklärungen für das Rekord-Altern hatten alle Porträtierten. Auf eine Formel bringen lassen sie sich nicht. Das klappte am ehesten auf Okinawa, einem japanischen Archipel: Dort leben so viele 100-Jährige wie nirgends sonst. Unter anderem essen sie gerne Tofu. Was sie noch zu weisen Menschen macht, steht in diesem Buch. tha


Elton John über Elton John

„Rocketman“ ist nicht genug, nein, niemals. Deshalb nun also noch ein Buch nach jenem Kinofilm, der nur die erste Lebenshälfte dieses berühmten Musikers beschreibt, eines der erfolgreichsten aller Zeiten. Es heißt „Ich, Elton John“ (Heyne, 26 Euro), und das Personalpronomen gleich im Titel ist wahrscheinlich das Allerehrlichste an diesem ehrlichen Buch. (Autobiografien wollen natürlich immer ehrlich sein, verschweigen aber dennoch das meiste).

Warum das durchaus, über den Film hinaus, lesenswert ist, wenn John (72) jetzt und bald schon bühnenabstinent, sein Leben selbst erzählt? Nun, ganz einfach: Weil Elton John Elton John ist. Also einer der Allzeitgewaltigen des Popbusiness. In seinem eher schlicht geschriebenen Erinnerungsbuch gibt es die üblichen Drogenabstürze, die frühen Niederlagen, die in sensationelle Triumphe umschlagen; und es gibt das sexuelle Doppelleben, das beinah schicksalhaft wird, es kommt zu einem Suizidversuch.

Wenn ein glücklicher Mann über die unglücklichen Zeiten schreibt, ist das erträglich. Johns Leidenschaft für den FC Watford wollte man übrigens immer mal erklärt bekommen, und wie er Michael Jackson so fand oder „Candle In The Wind“, steht hier auch drin. Autobiografien sollten immer auch überraschend sein, vieles kennt man ja bereits. tha


Ein skurriler Krimi

Ulrich Ritzel hat sich einen Namen gemacht mit seinen Kriminalromanen um den eigenbrötlerischen Kommissar Berndorf, mehrfach wurden die Bücher mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. In seinem aktuellen Roman „Die 150 Tage des Markus Morgart“ (btb, 20 Euro) erzählt Ritzel, einst ein mit dem Wächterpreis dekorierter Reporter, eine so abenteuerliche wie auch ein wenig skurrile Kriminalgeschichte. Lukas Gsell, so heißt der Held des Romans, ist ein erfolgloser Schriftsteller, der eines regennassen Morgens die Hündin eines Nachbarn ausführt.

Knurrend bleibt der Hund vor einer hölzernen Bank stehen, auf der ein dunkel gekleideter Mann sitzt. Gsell entschuldigt sich, der Mann winkt ab, Gsell geht weiter, bringt den Hund zurück zu seinem Besitzer. Tags darauf erfährt Gsell, dass der Mann versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Doch die Kugel in seinem Kopf war nicht tödlich, der Mann, es ist Markus Morgart, ein Investor, hat überlebt, kann sich aber nicht mehr an alles in seinem Leben erinnern.

Gsell fühlt sich auf ihm unbegreifliche Weise zu dem Mann hingezogen, sucht den Kontakt zu ihm und tritt gemeinsam mit ihm eine Reise an, auf der Morgart seine Erinnerung wiederfinden soll. Ritzels Roman ist eine große epische Erzählung über Suche und Sinn im Leben. va


Der Norden leuchtet

Die Sehnsucht nach dem hohen Norden ist groß: malerische Fjorde, gewaltige Gletscher, endlose Polarnächte – davon träumen Menschen seit Jahrhunderten. Bernd Brunner hat nicht nur all die romantischen Verklärungen, sondern auch reichlich Faktisches für „Die Erfindung des Nordens“ (Galiani Berlin, 24 Euro) zusammengetragen und arbeitet sich sehr unterhaltsam in 29 kurzen Kapiteln durch die „Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“.

So blättert er etwa auf, wie überhaupt im 17. und 18. Jahrhundert ein so großes Interesse an den nordischen Ländern entstand, beschreibt den Einfluss der in der Edda versammelten Götter- und Heldensagen und thematisiert die immer mehr um sich greifende Faszination für die wilde, urwüchsige Natur.

Von der Rassenideologie der Nazis, die sich in die Vorstellung von einer „heldischen Gesinnung unseres nordischen Blutes“ gefielen, bis zur Outdoorbekleidungsfirma The North Face reicht das Spektrum, und natürlich zitiert Brunner auch einen der ganz großen Klassiker der Erlebnisliteratur: „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ von Christiane Ritter, die 1934/35 einen Winter­ auf Spitzbergen verbrachte. Bei der Vielzahl der Themen kann das alles zwar nur angerissen werden, Fernweh weckt „Die Erfindung des Nordens“ dennoch. hot


Sinnsuche im Boxsport

Es gibt ja viele Geschichten um Flucht, Bürgerkriege und Armut, die aus der manchmal verklärten Perspektive von gebildeten Bürgern auf Sinnsuche geschildert werden. Der junge österreichische Autor Robert Prosser, Jahrgang 1983, bekannt geworden mit dem Roman „Phantome“, erzählt davon in „Gemma Habibi“ (Ullstein fünf, 224 Seiten) etwas anders.

In seinem neuen Roman treffen Zain, den alle nur Z nennen, aus dem geschundenen Syrien und der Provinzler und Lehramtsstudent Lorenz in Wien aufeinander. Aus so unterschiedlichen Welten stammend, vereint sie doch das eine: die Liebe zum Boxsport. Eine wichtige Rolle nimmt auch noch die engagierte und arbeitswütige Fotografin Elena ein, in die sich Lorenz natürlich bald verliebt. Beide trifft Lorenz 2011 auf einer Reise nach Syrien.

Bald steht der Boxsport im Raum, der auch zum beruflichen Inhalt wird und ihn das Studienfach hin zur Sozialanthropologie wechseln lässt. Das mag zunächst konstruiert klingen, auch ein wenig zu gewollt abenteuerlich mit einer Reise nach Ghana, in der dann wildfremde Frauen in seinem Bett landen. Doch der Roman nimmt ordentlich Fahrt auf. Das Boxen wird zur Metapher, die von Brutalität und Zärtlichkeit erzählt. Und von letzten Konsequenzen. asti


Reise in die Kindheit

Familien sind mal glücklicher, mal weniger glücklich. Letzteres hat oft mit Geheimnissen zu tun. In „Der Sturm“ (Klett-Cotta, 22 Euro, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek), dem neuen Roman des schwedischen Autors Steve Sem-Sandberg, wird der junge Andreas zum Forscher seiner verdunkelten Kindheit. Es verschlägt ihn zurück auf eine norwegische Insel. Dort ist sein Ziehvater Johannes gestorben, es ist das Jahr 1990. Einst hatte der Andreas und seine rebellische Schwester Minna aufgenommen, nachdem die Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen.

So zumindest die offizielle Version. Dann aber stößt Andreas auf eine Geschichte, die in die Zeit der Besatzung durch die Deutschen zurückreicht und eine politische Tragweite hat. Manches an den Vorgängen schildert der Autor sehr dokumentarisch. Lebendig wird seine Geschichte dann, wenn er sich den Inselbewohnern und ihren Eigenheiten zuwendet.

Dem sehr engen Beschützerverhältnis Andreas’ zu seiner Schwester. Dem ominösen Gutsbesitzer Kaufmann. Und auch dem zwielichtigen Gutsverwalter Carsten. Mit der Hauptfigur folgt man der Enthüllung des Ungeheuerlichen. Steve Sem-Sandberg wurde bekannt mit „Ravensbrück“, einem Roman über die Franz-Kafka-Freundin Milena Jesenká. asti


Ein literarischer Krimi

Der in Wien lebende Paulus Hochgatterer ist Kinderpsychiater, und er ist Schriftsteller. Er hat wunderbare Romane geschrieben wie etwa „Die Süße des Lebens“ (2006) oder „Das Matratzenhaus“ (2010). Jetzt ist dem Österreicher erneut ein großer Wurf gelungen: In „Fliege fort, fliege fort“ (Deuticke, 23 Euro) erzählt er von Gewalttaten, die gegen alte Menschen verübt werden, grausame Taten, die scheinbar grundlos daherkommen.

Doch alles beginnt „Damals“, wie Hochgatterer das erste Kapitel überschreibt, als sich ein rebellischer Junge und eine engagierte Erzieherin in einem Kinderheim begegnen. Die junge Frau will das Gute, das Heim aber ist eine Stätte des Bösen. Hochgatterer lässt seinen Roman auf zwei zeitlich verschränkten Ebenen spielen, im Heute und im Gestern. Es ist eine literarisch-kriminalistische Geschichte, ohne dass das Buch ein Kriminalroman wäre.

Gleichwohl gibt es auch eine Art Ermittler-Duo, den Psychiater Horn und den Kommissar Kovacs, die langsam den Hintergründen der Gewalt gegen die Alten auf die Spur kommen. Licht ins Dunkel der Geschichte kommt allerdings erst, als ein junges Mädchen entführt wird, auch das geschieht scheinbar ohne jeden Grund, denn Geld fordert der Entführer nicht. Doch was geschieht schon wirklich ohne Grund? va


Joops Unverblümtheit

„,Ich habe eigentlich mehr von dir erwartet‘, sagte der Kunstlehrer. Ja, das geht fast allen so, dachte ich.“ Eine kleine Szene, mit der Wolfgang Joop nicht nur aus seiner Schulzeit erzählt, sondern einen (aber nicht den einzigen!) roten Faden seines Lebens skizziert. Derart präsent war dieser Modemensch, Künstler und (Selbst-)Inszenierer stets in der Öffentlichkeit, dass sich irgendwann wohl jeder einmal eine Meinung gebildet hatte.

Mal Bewunderung, mal Antipathie – Gleichgültigkeit allerdings wäre eindeutig Verschwendung. In seiner funkelnden Autobiografie „Die einzig mögliche Zeit“ (Kindler, 22 Euro) schreibt Joop mit radikaler Unverblümtheit, ohne einen Voyeurismus zu bedienen, von seinem Werdegang, dem idyllischen Aufwachsen unter Frauen auf einem Hof bei Potsdam, unangepassten Beziehungen, romanhaften Begegnungen. Karl Lagerfeld, liebevoll skurril auf seinem Schloss, ist ebenso darunter wie etliche DDR-Kontakte, die ihm später Stasi-Vorwürfe bescheren, oder der eigene autoritäre Vater, womöglich sei er schon „aus Protest zum Narzissten geworden“.

Joop findet einen charmant selbstironischen Ton, und vor allem: Er hat wirklich etwas zu erzählen. Von Heimat und Eitelkeiten, von deutsch-deutscher Geschichte und den verrückten Jahren einer (auch Hamburger) Hochglanz-Szene. msch


Kurz und intensiv

Unverschämtes Glück“ hat Jamel Brinkley seinen Band mit Kurzgeschichten (Kein & Aber, 22 Euro) genannt, „Endlos zufrieden“ heißt eine von ihnen. Doch die Titel täuschen, denn Brinkleys Protagonisten sind Kinder der Schwar­zengettos von New York, die von einem anderen, besseren Leben träumen. Manchmal von der ganz großen Liebe (oder wenigstens aufregendem Sex), häufiger noch davon, Armut und Einsamkeit, familiäre Konflikte und Schicksalsschläge hinter sich lassen zu können.

Da ist etwa der kleine Freddy, der darauf hofft, beim Tagescamp der Kirchengemeinde in einer reichen weißen Familie zu landen. Ein riesiger Swimmingpool mit Sprungturm im Garten, verführerisch duftende Steaks vom Grill – so müsste es sein. Und kommt doch ganz anders. Stark auch der quälend-unausgesprochene Bruderzwist in „Alles, was der Mund isst“, der bei einem Workshop für den brasilianischen Kampftanz Capoeira aufgearbeitet wird.

Sehr dicht die Geschichte eines Haftentlassenen, der eine zwischen Nähe und Distanz changierende Beziehung zu der Frau seines verstorbenen besten Freundes eingeht. Einerseits möchte man nach den meist etwa 30 Seiten noch viel mehr erfahren, andererseits bringt Brinkley jede Geschichte zu einem emotionalen Abschluss. Großartig! hot