Hamburg. Ein Glücksfall für den deutschen Film: Christian Schwochow hat Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ mit starken Bildern verfilmt.

Weite Landschaften. Ewige Gezeiten. Wie klein nehmen sich die Menschen darin aus. Und doch: Wie ernst nehmen sie sich. Und was tun sie sich nicht alles an. Um am Ende doch nur kleine, unbedeutende Punkte zu sein in dieser übermächtigen Natur. Das ist der erste und der bleibende Eindruck, wenn man sich Christian Schwochows Verfilmung von Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ ansieht.

Der Roman war ein Schlüsselbuch der 68er-Generation, das seinen Autor auch international berühmt machte. „Deutschstunde“ wurde in 20 Sprachen übersetzt und 2,2 Millionen Mal verkauft. Schon 1971, drei Jahre nach Erscheinen, wurde es erstmals verfilmt. Fürs Fernsehen, von Peter Beauvais. Der Stoff schrie geradezu danach, noch einmal adaptiert zu werden. Und doch hat es lange gedauert. Und wurde nun von einem Regisseur aufgegriffen, der längst einer ganz anderen Generation angehört und einen ganz eigenen, neuen Blick auf den Stoff wirft.

Die Nöte des Lebens von der Seele schreiben

Noch einmal sitzen wir mit Siggi Jepsen (Tom Gronau) in einer Jugendstrafanstalt, wo der Junge einen Aufsatz über „Die Freuden der Pflicht“ schreiben soll. Wobei er keinen Anfang findet und deshalb ein leeres Schulheft abgibt. Weshalb er zur Strafe in Einzelarrest kommt, bis er den Aufsatz geschrieben hat. Und wo er sich plötzlich alle Nöte seines Lebens von der Seele schreibt. Und nicht mehr aufhören kann, auch als der Anstaltsdirektor ihm die Strafe längst erlässt.

Siggi (Levi Eisenblätter) mit Schwester Hilke (Maria Dragus).
Siggi (Levi Eisenblätter) mit Schwester Hilke (Maria Dragus). © dpa

Und mit den Augen des Jugendlichen sehen wir noch einmal die Bilder seiner Kindheit. Wo der elfjährige Siggi (Levi Eisenblätter) am Ende des Krieges hin- und hergerissen zwischen seinem Vater und seinem Paten, die einmal beste Freunde waren und dann zu erbitterten Feinden wurden in Rugbüll, dem (fiktiven) nördlichsten und entlegensten Zipfel Deutschlands. Weil der Pate Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti) ein Kunstmaler ist, der als entartet gilt und mit einem Berufsverbot traktiert wird. Und weil Siggis Vater Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) der strenge und pflichtgetreue Polizist des Ortes ist, der dieses Mal- und Berufsverbot überwachen soll.

Der Film will eine klare und deutliche Parabel auf die heutige Zeit sein

Der Vater will den Sohn dabei zum Komplizen, der Maler ihn zu seinem Verbündeten machen. Und das unschuldige Kind wird dabei aufgerieben. Siggi muss miterleben, wie der eigene Vater Siggis fahnenflüchtigen Bruder verstößt, während der Pate ihn versteckt. Muss miterleben, wie der eigene Vater die Werke seines einstigen Freundes konfisziert. Bis das Kind zum Dieb wird. Und einige von Nansens Werken stiehlt, um sie zu retten.

In „Deutschstunde“ ist es ein totalitärer Staat, der verordnet, was Kunst darf und was als „entartet“ oder „krank“ gilt, aber der Künstler setzt sich mutig darüber hinweg. Schon Lenz hat seine Geschichte in einen überzeitlichen Raum gestellt. In einen Flecken, an dem der Krieg noch kaum Verheerungen angerichtet hat und in dem es nicht konkret um den Nationalsozialismus ging. Schon der Roman war eine zeitlose, weit übergreifende Mahnung gegen die Deformierung des Geistes durch staatliche Repressionen.

Im Film, bei dem, wie so oft, Schwochows Mutter Heide Schwochow das Drehbuch geschrieben hat, wird Lenz’ Roman in eine Bildsprache übertragen, die mit erstaunlich wenig Dialogen auskommt und alles in starken, bleibenden Kinobildern erzählt. Die Landschaft wird bei Schwochow zum eigenen Protagonisten. Ein Raum, der Weite, Luft und Freiheit verspricht und doch für den kleinen Siggi zum Gefängnis wird. Lenz’ starken Bildern fügt Schwochow noch weitere, prägende Metaphern hinzu. Siggis makabrer Drang etwa, Tierskelette und -knochen zu sammeln. Und die versteckt er in einem leer stehenden Haus, das Hals über Kopf verlassen wurde. Von, wie man vermuten muss, Menschen, die deportiert wurden. Hier werden nur Assoziationen ausgelegt, und der Zuschauer ist ganz aktiv gefordert, sie selber zu Ende zu denken. Dennoch hängt kein Hitler-Bild an der Wand, und keine Flagge weht im Wind. Lediglich das Hakenkreuz im Helm des Polizisten verweist auf die konkrete Situation. Der Film soll nicht als bloße Geschichtslektion und Verarbeitung der Vergangenheit verstanden werden, er will eine deutliche und klare Parabel auf die heutige Zeit sein. Schwochow hat auch klug daran getan, die Bezüge zu Emil Nolde, die Lenz bei seiner fiktiven Figur Nansen einfließen ließ, auszulassen.

„Deutschstunde“ D 2019, 125 Min., ab 12 J., R: Christian Schwochow, D: Levi Eisenblätter, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Johanna Wokalek, Sonja Richter, Tom Gronau, täglich im Abaton, Astor, Elbe, Holi, Koralle, Zeise; www.wildbunch-germany.de/movie/deutschstunde