Hamburg. Jeff Tweedy begeisterte am Sonnabend mit seiner Indie-Rock-Band und entführte die Gäste ins Wilco-Universum.
Jeff Tweedy also, die äußerlich so gemütliche – Bauch, Bart, Brille – Inkarnation des amerikanischen Indie-Rock; auch er nun in der Elbphilharmonie. Mit seiner längst Legendenstatus besitzenden Band Wilco, die jeder Americana-Afficionado aufrichtig verehrt und die immer der Notausgang ist, wenn der Rock’n’Roll lahmt. Er hat bedauerlicherweise seinen Status als prägende Spielart der Populärmusik längst aufgegeben.
Wie gut, dass sechs mittelalte weiße Männer (kein Sozialfavorit der Gegenwart, natürlich) das ziemlich egal ist. Zweieinhalb Stunden spielten Jeff Tweedy (Gesang und Gitarre), Nels Cline (Gitarre), John Stirrat (Bass), Glenn Kotche (Schlagzeug, Perkussion), Pat Sansone (Keyboard, Gitarre) und Mikael Jorgensen (Piano, Keyboard) im Großen Saal. Es war ein Triumph.
Tweedys Faszination für Geräusche
Und ein kräftiges E-Gewitter gegen die Cruise-Protzerei des Hafens. In seinem soeben auf Deutsch erschienenen, vorzüglichen Memoir „Let's Go (So We Can Get Back): Aufnehmen und Abstürzen mit Wilco etc“ (Kiepenheuer & Witsch) schreibt Tweedy über seine Faszination für alle Art von Geräuschen. Wobei davon natürlich implizit jede anständige Musikerbiografie handeln sollte. Wie Tweedy, der Sohn eines Bahnangestellten, seine Vorstellung vom Rauschen, das in allen Dingen wohnt, in Klang umgewandelt hat, ist jedoch als tief verankertes Kunststreben vielleicht manchmal noch stilprägender als die Antriebe eines, sagen wir, Vorstadtrappers.
Oder wenigstens interessanter. Tweedy hat mit seiner Erstband Uncle Tupelo zunächst Country und Folk wenn nicht dekonstruiert, so doch wenigstens großartig verfremdet, indem er ihnen die Energie des Punk injizierte. Um schlussendlich mit Wilco ganz im Indierock zu landen. In Hamburg spielte das Sextett, das seit langem eine der kraftvollsten und versiertesten Rockbands ist, ein Kondensat seines gewaltigen Werks, das sich in jenen satten zweieinhalb Stunden auf immerhin 28 Lieder erstreckte.
Eintauchen ins Wilco-Universum
Die Zeit verging wie nix – hatte der Abend nicht eben erst mit „Bright Leaves“ angefangen, einem Song des im Oktober erscheinenden neuen Albums „Ode to Joy“, als einen die glänzende Rocknummer „The Late Greats“, der krönende Abschluss des Sets, schon wieder in die blaue Hamburger Nacht jagte? Was man dazwischen unter anderem erleben durfte: Insgesamt acht Stücke von „Ode to Joy“, die sich, sehr oberflächlich gesprochen, einpassen ins Wilco-Universum, wo das Liebliche und das Sonische immer schon in einer Supernova verschmolzen. Und daneben auch etliche „Hits“ des Karrierehöhepunkts „Yankee Hotel Foxtrot“, der der Band 2002 zu einem enormen Popularitätsschub verhalf.
„Impossible Germany“ aber stammt von „Sky Blue Sky“ und war allein Titel-mäßig wie gemacht für den Abend. Tiefsinnig angelegte Gedanken beim Zuhörer – über das Völkerverbindende der Musik etc. – verflüchtigten sich in der immer jungen, ungestümen Begeisterung über Nels Clines Endlos-Gitarrensolo. Für das gab es stehende Ovationen, wie überhaupt die eruptive Publikumsäußerung ein Wesensmerkmal dieses Konzerts war.
Amtierende Meister aller Indierockklassen
Drummer Glenn Kotche bekam seinen Auftritt bei „Via Chicago“, auch da wieder ergab man sich wehrlos der dick aufgetragenen Könnerschaft eines begnadeten Musikers. Dass Wilco unbedingt an Rockmusik glauben, wurde hinlänglich klar, obwohl Tweedy zwischen den Stücken beinah demonstrativ scheu seine Sätze ins Rund nuschelte. Auch dafür wird er geliebt, und die Schüchternheit jenseits der Gitarrengewalt ist natürlich immer schon bezaubernd gewesen, ob der Frontmann nun 22 ist oder 52. Wilco sind, das kann man nach diesem Konzert sagen, immer noch die amtierenden Meister aller Indierockklassen.