Hamburg. Ein Vierteljahrhundert arbeitete Hella Schwemer-Martienßen für die Bücherhallen, bald ist Schluss. Das große Abschiedsinterview.
23 Jahre lang leitete Hella Schwemer-Martienßen die Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen. Im September ist Schluss für die 64-jährige Bibliothekarin, die 1994 über die Stationen Lüneburg und Bremen nach Hamburg kam. Schwemer-Martienßens Nachfolgerin wird Frauke Untiedt, die bislang die Zentralbibliothek am Hühnerposten und die Zentralen Bibliotheksdienste leitete. Sie wird einen Bibliotheksverbund übernehmen, der fit für die Zukunft ist, glaubt Schwemer-Martienßen. Die Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen feiert in diesem August ihren 100. Geburtstag.
Haben Sie vor 25 Jahren, als Sie bei den Bücherhallen anfingen, eine Ahnung davon gehabt, wie jene bei Ihrer Pensionierung aussehen könnten?
Hella Schwemer-Martienßen Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich zuerst an den Schock bei meiner Ankunft in Hamburg. Die Bücherhallen fanden sich fortschrittlich, waren aber in Wirklichkeit ziemlich rückständig. Beim Katalog wurde trotz EDV-Einsatz noch mit dem händischen System gearbeitet. Ich war vorher acht Jahre in Bremen, dort wurde auch bei den Bibliotheken extrem gespart. Das war ein echtes Mangelsystem. In Hamburg wurde dagegen noch in Saus und Braus gelebt. Und die Zustände waren dennoch oder deswegen, je nach Perspektive, extrem beharrlich. Ich hatte in Bremen gelernt, wie man trotz geringer werdender Ressourcen effektiv arbeiten kann. In Hamburg wollte ich es genauso halten, aber hier glaubte zunächst niemand daran, dass das möglich ist.
Sie mussten die Bücherhallen durch einen schmerzhaften Prozess der Konsolidierung führen.
Allein zwischen 1996 und 1998 wurden 19 Stadtteilbibliotheken geschlossen. Die sieben Neueröffnungen wurden von der Öffentlichkeit fast übersehen, obwohl sie von Anfang an erfolgreich waren. Das Hamburger Bibliothekssystem wurde in der Folge quasi halbiert. Es gab in meiner Amtszeit insgesamt fünfmal Budgetkürzungen; deswegen sind die vergangenen fünf Jahre die besten gewesen.
Es ist, wie in vielen anderen Bereichen auch, die Digitalisierung, die bei den Bücherhallen alles veränderte. Wie haben Sie jene erlebt?
Es war früh absehbar, dass die Bücherhallen sich wandeln müssen. Seit 1999 gab es das Internet, in dem jeder seinen Auftritt haben musste. Unsere erste Homepage wurde von einem Mitarbeiter gestaltet – wenn man so will echter „Kartoffeldruck“! Weil wir 20 Jahre lang diese unendlichen Sparanstrengungen unternahmen, dauerte es bis 2011, bis wir uns endlich eine moderne Internetseite leisten konnten.
Was muss eine Bibliotheksmanagerin heute alles beachten?
Im Jahr 2019 muss sich die Leitungskraft eines Bibliothekssystems vor allem darauf konzentrieren, dass angesichts des permanenten Wandels alle Kollegen und Kolleginnen auf diesem Weg mitgenommen werden. In den Jahren der Konsolidierung war das nicht immer der Fall. Wir haben im Laufe der Zeit fast alles automatisiert, was man automatisieren kann. Im Ausleihbetrieb selbst ist eigentlich nur noch das Aufräumpersonal vonnöten. Also schauen wir seit etwa fünf Jahren besonders auf den Kundenkontakt und die Vermittlungsarbeit und die Weiterqualifizierung des Kollegiums. Die Mitarbeiter sollen unsere Botschafter sein und mit den Kunden interagieren. Was könnten sie in der Bücherhalle suchen? Für die 420 Mitarbeiter der Bücherhallen sieht der Arbeitsalltag heute völlig anders als noch vor einigen Jahren aus.
Die Kundschaft hat sich auch verändert.
Wir haben mittlerweile viele Kunden, die nicht für eine halbe Stunde zum Bücherausleihen kommen, sondern den ganzen Tag bleiben. Nicht nur Lerngruppen nutzen die Bibliothek als freien Raum, als Ort mit freiem Zugang. Wo gibt es solche Orte in unserer Gesellschaft eigentlich noch? Auch, dass der Kaffee nur 1,10 Euro kostet? Das Alleinstellungsmerkmal des freien Zugangs ist unser Pfund. Deswegen vor allem haben wir steigende Nutzerzahlen.
Sind Bibliotheken heute multimediale Treffpunkte?
Es ist in meinen Augen das Allerwichtigste, dass ein öffentliches Haus gutes Internet hat. Und wir haben das beste W-LAN der Stadt. Die Kunden bringen ihre eigenen Rechner mit. 40 Prozent unserer Kunden in der Zentralbibliothek sind derzeit junge Migranten, meistens Männer. Sie alle übrigens verhalten sich hier unauffällig und halten sich auch an das Handyverbot im Publikumsbereich. Es geht ihnen auch darum, Kontakte zu knüpfen, unter anderem in den insgesamt 125 Gesprächsgruppen von „Dialog in Deutsch“ in allen Bücherhallen Hamburgs, von denen allein fast 50 im Hühnerposten stattfinden.
Die Bibliothek als sozialer Ort.
Ja. Einige Kollegen haben sich unlängst über einen Beitrag von Deutschlandradio Kultur echauffiert. Er trug den Titel „Obdachlos in der Bibliothek“, was ein wenig despektierlich klang. Dabei haben wir durchaus Menschen im Haus, die tatsächlich auch aufgrund schlechter Wohnverhältnisse praktisch jeden Tag kommen. Öfter geht es allerdings um Kontaktsuche und die Bibliothek als Lernort. Am Hühnerposten gibt es zwischen Januar und Mai keine freien Sitzplätze wegen der vielen Schüler und Anfangssemester von der Uni. Wenn die jungen Menschen in Gruppen mit ihren Rechnern zwischen den Bücherregalen sitzen, fühlen sich die bürgerlichen Schichten manchmal gestört. Wir haben jetzt auch einen Stillarbeitsraum, in dem nur gelesen werden darf. Auch was atmosphärische Störungen angeht, sind übrigens unsere Mitarbeiter gefragt. Sie müssen diese erspüren und ganz grundsätzlich herausfinden: Wie können wir wem wie genau die optimale Dienstleistung bieten.
Wie empfinden sie insgesamt die räumliche Situation der Zentralbibliothek?
Sie ist viel zu klein. Mit 8000 Quadratmetern haben wir beispielsweise lediglich die Hälfte an Publikumsfläche verglichen mit München. Aber wir bauen permanent um, derzeit in der ersten Etage, wo wir uns im immer wichtiger werdenden Veranstaltungsraum einen neuen Fußboden und neue Technik gönnen. Auch das Café wird umgesiedelt, der Empfangsbereich soll neu gestaltet werden, damit man gleich sieht, dass man sich in einer Öffentlichen Bibliothek befindet. Aufenthaltsqualität ist alles.
Was ist die gesellschaftliche Aufgabe von Büchereien?
Wir sagen heute, dass die Bücherhallen eine wichtige demokratisch-partizipative Rolle ausüben. Wir wollen zur Teilhabe einladen. Außerdem müssen wir mehr als früher Haltung zeigen. Im solidarischen Komplex gibt es viel zu tun. Es gilt, jeglicher Form von Ausgrenzung entgegenzutreten. Und insgesamt ist es wichtig, Kooperationen zu suchen. Wir ermuntern unser Kollegium, selbst aktiv zu werden, was das angeht.
Haben öffentliche Bibliotheken ein Imageproblem? Macht sich Ihrer Meinung nach zum Beispiel jeder Politiker ein richtiges Bild von den Aufgaben einer Bücherei?
Das Image hat sich zuletzt äußerst positiv gewandelt. Aber lange Zeit herrschte die Meinung vor, in einem Filialbetrieb wie den Bücherhallen lässt sich eben leicht sparen. Gegen Schließungen konnte man sich nur schwer wehren, wenn das Budget knapp wurde. Dadurch ging zeitweilig viel Vertrauen verloren. Die Strategie war, das Ganze stets neu zu betrachten und bestmöglich unter den gegebenen Bedingungen nach Qualitätsgesichtspunkten zu gestalten. Dank der freieren Gesellschaftsform als Stiftung konnte das hier in Hamburg leichter gelingen als in anderen Städten.
Der Schwund dürfte ganz sicher das bitterste Thema Ihrer Amtszeit sein.
Das wäre eine einseitige Betrachtungsweise. Die vielen wichtigen Veränderungen wären ohne die ökonomische Krise vermutlich nicht möglich gewesen. Wir haben uns als Betrieb aufgerafft, es ist ein korporativer Geist entstanden, der manches möglich machte. Aber klar: Ich persönlich hätte nicht jede dieser Filialen geschlossen, wenn der Druck geringer gewesen wäre.
Wie sprachen von steigenden Kundenzahlen. Wird es künftig vielleicht sogar wieder mehr Bücherhallen als die derzeit 33 geben?
Hamburg ist eine wachsende Stadt, das ist durchaus möglich. In Billwerder, in Lurup/Bahrenfeld, dem gesamten Hamburger Westen muss man genau hinschauen, ob dort neue Häuser entstehen könnten. Andererseits wäre zu prüfen, ob Standorte wie Langenhorn und Fuhlsbüttel zusammengelegt werden sollten, um mehr räumliche und technische Qualität an einem Ort zu bieten. Als Bücherhallen müssen wir jedenfalls ständig Stadtteilentwicklungsprozesse verfolgen. Die Stadt verändert sich gerade jetzt schneller als in früheren Jahrzehnten.
Laut des aktuellen Bibliotheksentwicklungskonzepts rechnen die Hamburger Bücherhallen in naher Zukunft mit einem Ausleih-Rückgang von mehr als zehn Prozent. Bücher sind also oft nicht mehr der Hauptgrund, in die Bibliothek zu gehen.
Wir stellen weltweit fest, dass die Bibliothek als offener Raum, als „Dritter Ort“ neben Familien- und Berufs-/Schulleben immer wichtiger wird. Sie stillt das Bedürfnis der Menschen nach Gemeinschaft. Dieses Bedürfnis ist ein Resultat der zunehmenden Vereinzelung und auch der Digitalisierung. Hamburg ist die Stadt der Singles. In den Bücherhallen kann man nach Anknüpfungspunkten für das eigene Leben suchen.
Die sich nicht notwendigerweise zwischen zwei Buchdeckeln befinden müssen?
Das Buch hat weiterhin eine unglaubliche symbolische Bedeutung. Ich war kürzlich in der neuen Oodi-Bibliothek in Helsinki. Dort gibt es 80 Parkplätze für Kinderwagen, 3-D-Drucker, Ton- und Videoschnittstudios und noch viel, viel mehr. Natürlich auch Bücher, 200.000 an der Zahl. Aber für die schien sich, ich übertreibe natürlich, kaum jemand zu interessieren. Dennoch ist das Buch das Bindeglied. Es ist ein Symbol für Vertrauen.
Klingt dennoch fast ein wenig nach Museum.
Die Menschen werden von den Büchern nie ganz lassen, auch wenn ich mich bereits jetzt über die Kinder amüsiere, die mit ihrem Vater ein Kinderbuch lesen und dabei über die Seiten wischen, als wäre es ein Smartphone. Ich glaube, dass es immer eine Parallelnutzung aller medialen Formen geben wird. Eine Zeit, in der es keine dinglichen Bücher mehr geben wird, will ich mir nicht vorstellen.
Wie stehen die Hamburger Bücherhallen im bundesweiten Vergleich da?
Spitzenmäßig! In Hamburg gibt es das vielleicht beste kommunale Bibliothekssystem im deutschsprachigen Raum. Was die Bücherhallen für ihre fast 220.000 zahlenden Kunden leisten, ist außergewöhnlich. Das Haus wird immer wieder neu von vielen gebaut. Am Anfang hatte ich den Widerspruchsgeist dieses Hauses nicht verstanden, heute bin ich stolz darauf.
Ihnen folgt Ihre langjährige Mitarbeiterin Frauke Untiedt, die derzeit die Zentralbibliothek leitet. Was wünschen Sie Ihr?
Als erstes, dass der Hühnerposten im kommenden Jahr endlich auch sonntags geöffnet werden darf. Das Vorhaben muss jetzt die parlamentarischen Hürden nehmen. Und ich wünsche ihr und der Zentralbibliothek, dass durch das Freiwerden von Mietflächen die dritte Etage erweitert werden kann. Außerdem wünsche ich ihr, dass es so etwas wie Innovationsstau bei den Bücherhallen nie geben wird. Sie müssen, so altmodisch das Buch auch sein mag, Avantgarde bleiben. Wenn Hamburg eine Smartcity sein will, müssen die Bücherhallen das smarteste Haus in dieser Stadt sein. Und ich wünsche meiner Nachfolgerin stets gute Laune auch in schwierigen Situationen.
Und was möchten Sie mit Ihrer neugewonnenen Freiheit anstellen?
Ich werde verschiedene ehrenamtliche Projekte begleiten, auch im sozialen Bereich. In der Bibliothek werde ich mich allerdings nicht mehr engagieren (lacht). Lieber in Stadtteileinrichtungen, Kindertheatern, Musikfestivals. 25 Arbeitsstunden pro Woche werden insgesamt durchaus zusammenkommen.