Hamburg. Die Vorschau-Prosa der Verlage ist eine Kunst für sich. Ein Streifzug durch die literarischen Herbstprogramme.

Der Literaturbetrieb steht nie still. Geschrieben wird immer. Gelesen wird immer. Da braucht es kontinuierlich diejenigen, die Schreibende und Lesende zusammenbringen. Das sind, vor den Buchhandlungen noch, die Verlage. Die Verlage halten den Betrieb am Laufen. Sie machen Bücher. Zunächst, indem sie mit den Manuskripten arbeiten, sie mithilfe ihrer Lektoren in Schuss bringen, in Druck legen. Dann, indem sie die Bücher bewerben und dafür sorgen, dass sie zum Leser kommen.

Was das angeht, gibt es die Verlagsprogramme. Und die Verlagsprogrammprosa. Verlagsprogrammprosa ist eine eigene Disziplin, eine Kunst für sich. Verlagsprogrammprosa muss Journalisten, Literaturkritiker und vor allem Buchhändler überzeugen, verführen und ihre Neugierde wecken. Verlagsprogrammprosa muss die Frühleser heiß machen.

Verschickt werden die Vorschauen zweimal im Jahr. Weil es traditionell ein Frühjahrs- und ein Herbstprogramm gibt. Aber kalendarisch verteilen sich die Neu-Veröffentlichungen sowieso auf die ganze Strecke von Januar bis Dezember. Und parallel dazu hat man auch das Gefühl, eigentlich permanent Vorschauen zugeschickt zu bekommen. Man ist noch längst nicht mit den Herbstprogrammen durch, da landen die Digitalvorschauen fürs Frühjahr bereits im E-Mail-Postfach. Und umgekehrt.

Vorschauwesen treibt bizarre Blüten

Es soll Literaturredakteure geben, die sich jahreszeitenkonfus im Mai Pudelmützen aufsetzen. Und deren Vorschaustapel unter dem Tisch sicher 20 Kilogramm auf die Waage bringt. Manches wirkt, wir kommen darauf zurück, allerdings schwerer als es am Ende ist.

Bisweilen treibt das Vorschauwesen auch einigermaßen bizarre Blüten. Gerade versetzte ein Kulturredakteur den Botendienst des Abendblatts in helle Aufregung. Dabei war jenem Kollegen lediglich das Herbstprogramm eines Verlags zugestellt worden. Aber halt in geschätzt 80-facher Ausführung. Halt eine ganze Palette. Da wollte jemand wirklich Eindruck hinterlassen.

Dabei sind doch gerade die Portokosten ein nicht zu unterschätzender Faktor. Mit dem Münchner Luchterhand-Verlag hat jetzt der erste Verlag komplett auf Digitalversorgung umgestellt. Bei Rowohlt in Hamburg heißt es derzeit, man beobachte „die Entwicklung“ – und verschicke jedoch erst einmal weiter die Auflage in Höhe von 8500 Exemplaren an Handel, Presse und Lizenznehmer.

Ratlos und überfordert

Schauen wir doch in unser Exemplar. Es ist, ganz wie es sich für ein Verlagsprogramm gehört, ein Feuerwerk der Superlative, eine Explosion der Lobpreisungen. Wir lesen im Hinblick auf den neuen Roman des (übrigens auch von uns sehr geschätzten!) Autors David Wagner folgende güldene Sätze: „Ein großes Thema unserer Zeit, das immer mehr Menschen betrifft, und eine unvergessliche Erzählung.“ Über Yannick Haenels neuen Roman heißt es: „Ein verrücktes, geniales, süchtig machendes Buch.“

Der Italiener Davide Longo wird mit folgenden Worten eingeführt: „Die Stimme einer neuen Generation.“ Die endlich bevorstehende Ankunft von James Woods neuem Roman in deutschsprachigen Gefilden wird folgendermaßen bejubelt: „Ein tiefgründiger Roman, reich an menschlicher Einsicht, fein gezeichneten Charakteren und voll mit jenen Dingen, die uns in unseren stillsten Momenten beschäftigen.“

Wer möchte da nicht unverzüglich seinen Bücherstapel mit Wagner, Haenel, Longo, Wood verlängern? Wer ist da nicht sofort ratlos und überfordert angesichts der schieren Exzellenz des Rowohlt-Angebots? Wer will sich nicht verzweifelt die Haare raufen, weil sich jenes dolle Angebot ja noch vielfach potenziert? Weil wirklich alle andren Verlage ja genauso dringend erwartete, einmalige und inkommensurable Titel neu im Programm haben?

Verlagseigene Rhetorikmaschinerie

Die literarischen Novitäten: Halbjahr für Halbjahr, Saison für Saison, Programm für Programm sind sie ein Ausbund an Qualität. (Sollen wir zumindest glauben.)

Dabei ist die preisende Prosa so herrlich leicht wiedererkennbar. Man darf halt nur nicht durcheinander- und muss mit der Pluralität der Einmaligkeiten klarkommen. Bei Tropen zum Beispiel gibt es ja auch „Die Stimme einer Generation“ (diesmal: Simon Strauss). Außerdem bei den Stuttgarter Büchermachern im Angebot: „Gesellschaftskritik in bestechender Prosa“ (hier: Jonathan Lethem) und „Hochintelligente Gesellschaftssatire“ (hier: Sam Byers).

Fairerweise muss man sagen, dass die (gar nicht so selten sogar berechtigten, Potzblitz!) Jubelarien keineswegs allein aus der Feder der Öffentlichkeitsabteilungen stammen. Das ist nie so. Es sind die Literaturkritiker selbst, die die Verlage munitionieren: Breitenwirksame Zitate aus ihren Rezensionen oft älterer, aber auch aktueller, im Original schon früher erschienener Titel sind großflächig über die Seiten verteilt. Merke: Je teurer der von den Verlagen eingekaufte Titel, desto mehr Ruhm hat er international bereits abgegriffen, und desto weniger muss die verlagseigene Rhetorikmaschinerie der Beweihräucherung angeworfen werden. Wie sagt man so schön? Klappern gehört zum Handwerk.

Es ist alles ganz herrlich

Hier noch abschließend einige schöne Sentenzen aus der Werkstatt der vollendeten Belobiger, zu denen, wir erwähnten es, Literaturkritiker und Literaturverleger gleichermaßen gehören: „Ein furioses Debüt: Klug, liebevoll und böse“ (Kiepenheuer & Witsch über Dana von Suffrin). „Ein literarisches Meisterwerk mit wahrem Hintergrund, erzählt von einem vielfach ausgezeichneten Autor“ (der Berlin Verlag über Thomas Lang). „Es gibt wenige, die sich an Sinnfragen so zielsicher heranzuschreiben wissen wie Judith Kuckart“ (Dumont). „Isabel Allende ist ein Genie“ (Suhrkamp). „Alexander Osang schreibt den Roman des 20. Jahrhunderts“ (S. Fischer).

Es ist alles ganz herrlich. Es erscheinen ausschließlich überragende, einzigartige, originelle Bücher. Lektürestunden werden so zu immerwährenden Sternstunden. Der Buchmarkt als Leuchtfeuer des Schönen, Wahren, Guten. Oder anders gesagt: Bei geschätzt 100.000 neuen Büchern pro Jahr muss an der Aufmerksamkeitsbörse mit Worten und Sprachgirlanden gewuchert werden, als gäbe es kein Morgen. Wie der legendäre Kritiker Marcel Reich-Ranicki einmal sagte: „Ohne Übertreibung geht’s nicht.“