Hamburg. Panische Stars mit Weinkrämpfen vor dem Auftritt: Liedbegleiter Helmut Deutsch plaudert in seiner Autobiografie aus dem Nähkästchen.

Ein Pokerface aus Beton ist keine Einstellungsvoraussetzung für einen Mann wie ihn am Klavier. Doch schaden tut es auch nicht, während man wieder mal tief in den Bauch atmen muss, weil der Herr Kammersänger bei Proben Dinge von sich gibt wie „Das ist nicht zu tief, das ist Ausdruck.“ Wenn er, wie Hermann Prey es formulierte, ein „optisches Forte“ verlangt. Oder wenn jemand im Brustton päpstlicher Unfehlbarkeit verkündet: „Bei mir versteht man jedes Wort!“

Helmut Deutsch, Ende 1945 in Wien geboren und der weltweit berühmteste Musiker seiner Art, könnte etliche Lieder von solchen Momenten singen, und längst nicht alle wären in fröhlichem Dur. Doch das hingebungsvolle, kunstvolle Singen von Liedern überlässt er seit gut einem halben Jahrhundert anderen. Deutsch bleibt stumm. Immer. Was eigentlich schade ist, da der 73-Jährige mit seiner sanften Reibeisenstimme wunderbar launig von dieser Arbeit erzählen kann. Doch er überlässt anderen das wärmende Licht der Aufmerksamkeit, er überlässt ihnen ihren Teil aller großen Bühnen der Klassik-Welt, ihren Teil der Musik, die sie doch gemeinsam lieben.

Das Fotografieren bei Konzerten stört enorm

Die Liste der Künstlerinnen und Künstler, mit denen Deutsch auftrat oder auftritt, ist beeindruckend lang: Prey, Schreier, Quasthoff, Banse, Bonney, Damrau, Goerne, Volle. Und Jonas Kaufmann. Mit diesem Tenor gibt er seit fast drei Jahrzehnten Liederabende, sie waren auch schon in der Elbphilharmonie zu hören. Doch dazu später.

Helmut Deutsch ist Liedbegleiter. Aber zweite Geige spielt er deswegen nicht. „Wenn jemand Probleme damit hat, dann sollte er sich einen anderen Berufszweig suchen“, sagt Deutsch sehr kategorisch, aber auch mit diesem bal­drianigen Tonfall in der Stimme, der man so schnell nichts übelnehmen kann. „Dass der Klavierpartner Entscheidendes zum Gelingen eines Abends beiträgt, war im Prinzip immer klar. Nur den ganz großen Diven – darunter auch Männer – mitunter nicht.“

„Die Zeiten, wo Liedbegleitung ein Ausweg für gescheiterte Solisten-Karrieren war oder Dirigenten das so nebenbei gemacht haben, die sind vorbei. Alle bekannteren Liedbegleiter sind Leute, die genau das wollen. Und wenn man das nicht will, nützt es auch nichts zu sagen: Ich bin Liedpianist.“

„Als Psychologe bin ich Dilettant, der aber einiges gelernt hat“, findet Deutsch, bevor er hinzufügt: „Lernen musste. Man muss unsichere Sänger aufbauen und hysterische beruhigen, das gehört sehr dazu. Diese Seite kann man nicht ignorieren, es ist schon verblüffend, wie viel man in dieser Beziehung zu tun bekommt.“ Was man vor der Lektüre seiner angenehm uneitlen Autobiografie nur ahnte, wird schnell zur Gewissheit: Der Mann hat mehrere Jobs parallel. Pianist, klar, aber auch Psychologe und Nervenmasseur und, der Kollege Alfred Brendel bringt es im Buch-Vorwort schön auf den Punkt: Blitzableiter.

Weinkrämpfe 45 Minuten vor Konzertbeginn

Beispiele gefällig? Namen nennt Deutsch natürlich nicht. Doch man kann sich auch so lebhaft diesen Moment vorstellen, in dem ein Star bei einer Anspielprobe nach dem dritten verpatzten Einsatz bei einer Angststelle panisch wird wie ein Anfänger. Weinkrämpfe, 45 Minuten vor Konzertbeginn? Alles schon passiert. Deutschs Rezept dagegen, abgesehen von warmen Worten mit einer tröstenden Glasur aus Wiener Charme: „Man muss Zuversicht geben, sogar wenn man sie selbst nicht mehr hat.“

Insbesondere die zwölf Jahre mit Hermann Prey waren alles andere als ein Streichelzoo, „natürlich habe ich da Sachen eingesteckt, die ich zehn Jahre später oder jetzt nie eingesteckt hätte“, blickt Deutsch, ohne hörbaren Zorn, zurück. „Das ständige Belehren und Besserwissen … zwischen zwei Liedern im Konzert zugeflüstert zu bekommen: Da müssen wir aber noch viel dran arbeiten … Er war nun mal absolut der Chef. Aber ich habe unheimlich viel von ihm mitgenommen. Ein Duckmäuser war ich auch beim Prey nicht. Doch mir war sehr klar: Wenn ich das versemmel, dann habe ich vielleicht die größte Chance meines Lebens verpasst. Also war ich sehr folgsam.“

Deutsch hat sich ein dickes Fell zugelegt

Im Laufe der Jahre hat sich Deutsch ein für musikalische Details durchlässiges, ansonsten aber eher dickes Fell zugelegt. Diskutieren nur noch ab einem bestimmten Niveau gehört dazu, mit der Erfahrung kommt auch Autorität. Jüngere – und viel jünger als er sind inzwischen so ziemlich alle – „akzeptieren meist ohne große Diskussion, was ich vorschlage; ganz ähnlich, wie ich mich in den ersten Jahren zu Prey verhalten habe.“

Gerade habe ein ausschließlich mit Oper berühmt gewordener Sänger seine Agentur bei Deutsch anfragen lassen, ob er sich nicht vorstellen könne …? Einfach so mag Deutsch da nicht zusagen, denn wie könnte er, wenn er nicht weiß, wie dieser Künstler ein Schubert-Lied singt. Deutschs österreichische Geschmeidigkeit beim fast unbemerkten Gemeinsein war Pate beim schönsten Satz seines Buchs: „Ich bemühe mich im Sänger den Ehrgeiz zu wecken, die Stelle nach Jahren auch einmal richtig zu singen.“

Wie viele „Winterreisen“ er schon gemacht hat? Zwei-, dreihundert Runden mit diesem Schubert-Zyklus dürften es gewesen sein, schätzt Deutsch, alleine mit Prey kamen wohl 60, 70, 80 Stück zusammen. Doch nach wie vor gäbe es immer wieder Stellen, die ihn überraschen würden; Details, die er jetzt erst erkennt, obwohl er sie mitsamt seiner vielen Markierungen in den Noten schon so oft vor der Nase hatte.

Noch immer verärgert wegen Kaufmann-Eklat

Beim ersten Jonas-Kaufmann-Liederabend in der Elbphilharmonie war Deutsch als dessen Stammbegleiter im Mai 2017 mit dabei. „Da waren die Handys das Hauptärgernis“, erinnert er sich. Kaufmann habe ständig in aufblitzende Lichter schauen müssen, „das muss verboten werden“.

Beim zweiten Konzert im Großen Saal – Hugo Wolfs „Italienisches Liederbuch“ mit Kaufmann und Diana Damrau im Februar 2018 – hätte jemand nach der Pause „Wir sehen nur Rücken!“ dazwischengerufen. „Was sind das für Leute …!“, beim Erinnern daran wird Deutsch jetzt immer noch grantig, mehr als ein Jahr später.

Und natürlich hat er auch zu dem Mahler-Konzert mit Kaufmann, das mit einem Eklat endete, eine Meinung. „Es ist nicht der Klang, der einen am Großen Saal stört, sondern, dass es immer noch so eine Show ist für Leute, die dort fotografieren. Sicher verstehe ich, dass Jonas sauer wird, wenn jemand dazwischenruft: ,Man versteht hier nichts!‘ Wir sind doch keine Zirkuspferde ...“

Ein Begleiter stellt Sängerin oder Sänger niemals bloß

Ein ewiges Streit-Thema ist die klassische Fangfrage, die der große Liedbegleiter Gerald Moore ironisch auf seine „Erinnerungen eines Begleiters“ schrieb: „Bin ich zu laut?“ Dazu gehört auch die Nachfrage, wie weit der Flügeldeckel geöffnet sein darf oder muss.

Und was ist mit dem dritten Klassiker, dem Spruch „Auf dem Podium hat der Sänger immer recht“? Das mit dem immer recht haben sei natürlich etwas übertrieben, entgegnet Deutsch. Aber: „Man muss einem Sänger schon zugestehen, dass er physisch bedingt Dinge unter Umständen anders macht, als sie geprobt und vereinbart waren, dass er ein Tempo leicht ändert, damit er heil durch eine bestimmte Phrase kommt. Es gibt auch Grenzbereiche, wo ein Sänger macht, was er will, weil ihm plötzlich ein hoher Ton so gut gelingt, dass er sich denkt: Da bleibe ich jetzt ein bisschen drauf stehen.“ Dann habe er nicht recht, aber man werde ihn im Konzert auf dem Podium natürlich nicht bloßstellen. „Dann wird man halt warten und ihm nachher sagen: Na, das mach bitte nicht mehr. Das ist nicht Puccini, sondern Schumann. Oder man sieht ihn eh nicht wieder, dann sagt man nix. Dann ist’s eh wurst.“