Hamburg. Der Hamburger Jazz-Pianist Martin Tingvall hebt auf dem Soloalbum „The Rocket“ in die musikalische Schwerelosigkeit ab

„Je weniger, desto besser“ ist die Maxime der Stunde. Weniger Plastik, weniger Flugreisen, weniger Fleisch auf dem Teller. Aber auch weniger Töne? „Ja“, sagt Martin Tingvall, „für mein neues Album habe ich bewusst reduziert“. Und: „Pausen sind auch Musik.“ Dass der schwedische Pianist und Komponist, der seit etwa 20 Jahren in Hamburg lebt, sein drittes Soloalbum „The Rocket“ genannt hat, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Hier geht es zwar nicht um das entfesselte Durchstarten, um Explosionen, Lärm, Geschwindigkeit, aber: „The Rocket“ ist in Töne gegossene Schwerelosigkeit, ein Sich-treiben-Lassen in sanften Klangsphären, pure Entschleunigung fernab vom Alltagsallerlei.

Jazz, für den Tingvall vor allem mit seinem Trio steht, ist das im strengen Sinne nicht, eher Neo-Klassik. „Ich habe in der letzten Zeit viel Chopin gehört, auch Grieg und Pärt“, sagt Martin Tingvall – Einflüsse, die auf seinem an diesem Freitag erscheinenden Album hörbar sind. Aus etwa 200 einzelnen Fragmenten („Manchmal habe ich eine Melodie einfach ins Handy gesungen“) entstanden im Studio 14 Albumtracks, die Titel wie „Floating“, „No Gravity“ und „Lost In Space“ tragen. Nummern voll bezaubernd-einfacher Melodien, die oft wie hingeworfen klingen. Eine besondere Herausforderung sei das gewesen, sagt er. „Es sollte simpel klingen, aber niemals banal oder sogar plump. Eine Gratwanderung...“

Chopin, Grieg und Pärt sind Einflüsse auf „The Rocket“

Der größte denkbare Schrecken: Langeweile. Sie zu vermeiden: nicht planbar. Er müsse manchmal einfach darauf warten, dass sich ein „Flow“ einstelle, die Ideen zu fließen beginnen, die Finger sich wie von selbst bewegen, dass eine Melodie sich zeigt. „Ich kann das nicht steuern,“, sagt Tingvall. Gleichwohl spiele bei der Umsetzung das über Jahrzehnte erlernte musikalische Handwerk eine große Rolle. Hinzu komme viel Geduld. „Talent wird überschätzt“, erklärt er mit dem verschmitzten Lächeln eines Mannes, der natürlich weiß, dass er genug davon hat.

Statt wie sonst mit seinem international gefeierten Trio, ist Martin Tingvall derzeit solo unterwegs, erst am vergangenen Montag war er im Kleinen Saal der Elbphilharmonie zu hören. So gern er sonst mit Bassist Omar Rodriguez Calvo und Schlagzeuger Jürgen Spiegel spielt, so sehr genießt er die aktuelle Herausforderung und sucht dabei jeden Abend nach den Momenten, „in denen mich die Musik trägt“. In denen er nicht die Setliste herunterspielt („Kommt auch vor“), sondern es schafft, loszulassen, nicht mehr zu denken, sondern nur noch im Moment zu sein. „Dann geht man auf eine Reise.“ Dass gelegentlich ein falscher Ton dabei ist, ganz egal. „Jeder spielt falsche Töne, auch Keith Jarrett hat mal einen schlechten Moment.“ Das Wagnis überhaupt erst einzugehen, Freiheit zuzulassen, darauf komme es an. Das mache ein Konzert besonders.

Im September spielt Tingvall in der Laeiszhalle

„The Rocket“ erscheint beim Hamburger Label „Skip Records“, das in diesem Jahr 20. Geburtstag feiert und für Martin Tingvall schon seit 2006, seit dem Debüt des Tingvall Trios, musikalische Heimat ist. Hier habe man ihm immer maximale künstlerische Freiheit gewährt, sagt er, ihm Zeit gegeben, sich zu entwickeln. Mit den Labelbetreibern Bernd Skibbe und Sabine Bachmann verbinde ihn eine lange Freundschaft, die weit über das Berufliche hinausgehe. Klar, dass er mit seinem Trio bei der großen Geburtstagssause am 21. September in der Laeiszhalle auftritt. Ein langer Abend dürfte das werden, zu dem auch Gitarristin Nina Attal, das Emil Brandquist Trio und Saxofonist Tony Lakatos erwartet werden. Weniger ist mehr? Gilt in diesem Fall ausnahmsweise nicht.

Martin Tingvall: „The Rocket“ Album (Skip Records) ab 28.6. im Handel; www.martin-tingvall.com

20 Years Skip Records 21.9., 19.00, Laeiszhalle (U Gänsemarkt), Johannes-Brahms-Platz, Karten zu 12,- bis 48,- im Vorverkauf