Hamburg . Sie gilt als meistgelesene Autorin der Türkei. An der Regierung ihres Landes lässt die Schriftstellerin kein gutes Haar.

Wenn Elif Shafak nach Deutschland kommt, sind die Schlangen beim Büchersignieren nach den Lesungen lang. Die Autorin mag das, denn „die Leute wollen ja nicht nur dein Autogramm, sondern dir auch erzählen, was dein Buch ihnen bedeutet. Das macht mich glücklich“. Die in Straßburg geborene und in London lebende Autorin setzt sich in ihren Büchern mit den Zuständen in der Türkei auseinander. Ihr aktueller Roman „Unerhörte Stimmen“ erzählt von Leben und Tod einer Prostituierten in Istanbul. Das Abendblatt traf die 48-Jährige vor ihrem Auftritt im Magazin-Kino, wo sie auf Einladung des Literaturhauses las.

Hamburger Abendblatt: Ihr Roman beginnt mit einer Widmung an Istanbul. Die Stadt sei weiblich und war schon immer so, schreiben Sie. Wie sind Sie darauf gekommen?

Elif Shafak: Ich wollte das betonen, denn wenn man heute besonders zu später Stunde durch die Stadt geht, bemerkt man, dass die Straßen, öffentlichen Plätze, Tee- und Kaffeehäuser den Männern vorbehalten sind. Ich wollte diesen öffentlichen Raum für die Frauen zurückfordern. Historisch gesehen war die Seele der Stadt immer weiblich, das sieht man auch an den Symbolen der Stadt bis zurück in die byzantinische und ottomanische Zeit. Dieser Tradition wollte ich die Ehre erweisen.

Sind Worte da genug?

Shafak: Natürlich nicht, aber wir Schriftsteller können so unseren kleinen Teil beisteuern. Die Gesellschaft ist sehr patriarchisch und homophob, Diversität wird in Istanbul nicht gefeiert. Es ist dort schwierig, anders zu sein.

Was wäre denn eine männliche Stadt?

Shafak: Ankara. Die Stadt ist strukturierter, bürokratischer, sie hat eine andere Energie.

Ihre Protagonistin Leila arbeitet als Prostituierte. Manche sagen, das sei das älteste Gewerbe der Welt. Wird dieser Beruf heute in der Türkei respektiert oder gilt er als Laster?

Shafak: Das älteste Gewerbe der Welt ist meiner Meinung nach das Geschichtenerzählen. Ich wollte gern, dass Leila eine Prostituierte ist, weil in der Türkei es so schwierig ist, anders zu sein. Sex-Arbeiterinnen haben ein unglaublich hartes Leben. Die Geschichte endet 1990, das Datum habe ich bewusst gewählt. Man wollte damals ein Gesetz verabschieden, das das Strafmaß für Vergewaltiger von Prostituierten reduziert hätte. Man hat damals argumentiert, dass einer Hure eine Vergewaltigung nichts ausmachen würde. Für diese Leute ist so eine Frau fast kein menschliches Wesen mehr. Was für eine verdrehte Mentalität! So etwas existiert in der Türkei noch immer. Erst vor kurzem haben sie versucht, ein Gesetz zu verabschieden, das die Strafe für Vergewaltiger von Minderjährigen herabsetzen sollte, wenn sie bereit wären, die Täter zu heiraten. Sie haben es dann doch zurückgezogen, aber sie versuchen immer wieder Gesetze durchzubringen, die zeigen, dass sie sich um die Opfer nicht kümmern. Der patriarchische Blick ist unter türkischen Politikern dominant.

Gibt es Solidarität unter türkischen Autoren?

Shafak: Ja, aber wir brauchen mehr davon. Viele von ihnen sind demoralisiert und depressiv, sie fühlen sich alleingelassen. Nicht nur für Schriftsteller, auch für Journalisten und jeden, der mit Worten arbeitet, ist das Leben in der Türkei schwierig geworden. Worte sind dort zurzeit bleischwer.

Halten Sie sich für mutig?

Shafak: Überhaupt nicht, da gibt es in der Türkei viele ganz andere Leute. Ich bin nur eine neugierige Schriftstellerin, die Fragen stellt. Wir sollten nicht nur an Geschichten, sondern auch an der Stille, an kulturellen und sexuellen Tabus interessiert sein. Wir sollten schwierige Fragen über schwierige Dinge stellen, um einen offenen freien Raum zu schaffen.

Am Ende Ihres Romans erwähnen Sie, dass Sie nicht in die Türkei reisen konnten, um bei der Beerdigung Ihrer Großmutter dabei zu sein. Sie schildern sie als eine Außenseiterin, so ähnlich wie Leila.

Shafak: Dazu muss ich etwas über meine eigene Lebensreise erzählen, die für türkische Verhältnisse sehr ungewöhnlich war. Ich bin in Frankreich geboren worden. Mein Vater ist dort geblieben, als meine Eltern sich getrennt haben. Meine Mutter hat mich damals mit nach Ankara genommen. Für sie war es die Heimat, für mich ein neues Land. Meine Großmutter hatte keine gute Erziehung genossen, war aber sehr stark und weise. Sie war eine abergläubische Heilerin, glaubte aber an die Bedeutung einer guten Erziehung für Mädchen. Ihre Umgebung war sehr konservativ. Meine Großmutter und Mutter waren dort allein. Meine Mutter ist zurück an die Universität gegangen, sie war die einzige geschiedene, arbeitende und alleinerziehende Frau in dieser Umgebung. Deshalb kam ich mir vor, als würden wir am Rand der Gesellschaft leben. Ich weiß, was es bedeutet, „anders“ zu sein. Solchen Menschen möchte ich in meinen Werken eine Stimme geben.

Haben Sie deshalb den Vornamen Ihrer Mutter als Nachnamen angenommen?

Shafak: Das gehört dazu. Ich bin ohne meinen Vater aufgewachsen, der für seine beiden Söhne aus der zweiten Ehe ein guter Vater gewesen ist. Ich kam mir wie das vergessene Kind vor. Deshalb machte es für mich keinen Sinn, von zwei Frauen erzogen zu werden, aber den Namen meines Vaters zu tragen. So wurde der Name meiner Mutter mein Autorinnenname. Shafak gefiel mir auch so gut, weil das auf Türkisch Morgenröte bedeutet und sowohl männlich wie auch weiblich ist.

Sie beschreiben im Roman, wie einer Frau zur Apothekerin kommt und Hilfe sucht, sie hat bereits elf Kinder. Die Apothekerin gibt ihr ein Päckchen mit Kondomen und schickt sie nach Hause. Kurz darauf kommt die Frau zurück – mit Magenbeschwerden. Ihr Mann habe die Kondome nicht benutzen wollen, erzählt sie. Aber damit sie wenigstens etwas helfen, habe sie sie alle aufgegessen. Denken Sie sich so etwas aus?

Shafak: Ich habe gehört, dass etwas Ähnliches in Ostanatolien tatsächlich passiert ist. Ich bin ja nicht nur Autorin, sondern auch Leserin. Meine Lektüre ist abwechslungsreich: Fiktion, Sachbücher, Philosophie, Geschichte, auch Anekdoten von Ärzten, die in ländlichen Gegenden praktiziert haben. Vieles in dem Buch ist von wahren Begebenheiten inspiriert.

In welcher Sprache träumen Sie?

Shafak: Man kann in mehreren Sprachen träumen. Ich habe Englisch erst im Alter von zehn Jahren gelernt. Meine erste Fremdsprache war Spanisch. In Bezug auf Englisch bin ich ein Immigrant, und wie alle Immigranten passe ich nicht ganz dazu, fühle mich aber gleichzeitig frei.

Welche Sprache sprechen Ihre Kinder?

Shafak: Sie sind als Babys nach Großbritannien gekommen, sind also zweisprachig. Sie veräppeln mich immer, wenn ich etwas falsch ausspreche. Mein Geist ist schneller als meine Zunge. Davon darf man sich nicht einschüchtern lassen. Als ich noch auf Türkisch schrieb, habe ich die Sprache ausdehnen wollen, die von Hunderten Begriffen befreit wurde, die nicht türkisch genug waren – ein politisches Statement. Wenn jemand hier „Chuzpe“ oder „Kismet“ sagt, sagt ja auch niemand: He, die sind nicht englisch, nimm sie raus! Ich liebe Sprache, für mich ist sie magisch. Man kann mit einer endlichen Zahl von Wörtern unendlich viele Bedeutungen schaffen.

Heute schreiben Sie auf Englisch.

Shafak: Seit ungefähr 15 Jahren. In der Türkei hieß es: Jetzt ist sie keine türkische Autorin mehr, denn sie hat ihre Muttersprache hinter sich gelassen. Traurigkeit kann ich besser auf Türkisch, Humor besser auf Englisch ausdrücken.

In welcher Verfassung befindet sich die Demokratie in der Türkei?

Shafak: Es gibt keinen Zweifel, dass sich die Türkei schon länger zurückentwickelt. Erdogan regiert jetzt seit mehr als 15 Jahren und wurde immer autoritärer. In dieser Zeit sind auch Nationalismus und religiöser Fundamentalismus gewachsen. Meiner Meinung nach wachsen, wenn letzteres geschieht, auch Sexismus und patriarchale Strukturen. Wenn wir über die Türkei sprechen, sprechen wir derzeit nicht über eine Demokratie.

Wie schmerzhaft ist das für Sie?

Shafak: Sehr. Ich möchte nicht, dass mein Mutterland so ist. Ich bin gegen jegliche militärische Machtübernahmen, das gilt aber auch für alle zivil-autoritäre Machtergreifungen. Was wir brauchen, was wir grundsätzlich als Menschen verdienen, ist eine pluralistische, liberale Demokratie. Und ich unterstreiche besonders das Wort „liberal“. Wenn eine liberale Demokratie existieren will, braucht sie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, eine freie Presse, unabhängige Wissenschaften, Frauenrechte, Minderheitenrechte: Das alles zusammen ergibt eine gesunde Demokratie. In der Türkei haben wir keine dieser Bestandteile mehr.

Leben Sie in Ihrer Wahlheimat England derzeit in einer gesunden Demokratie?

Shafak: Ich bin vor zehn Jahren nach Großbritannien gezogen, und in dieser Zeit hat sich viel verändert. Auch schon vor dem Referendum. Jetzt gerade fühlt es sich an, als hätte der Brexit das politische System stark beschädigt. Das Parlament ist gelähmt, alles ist ein großes Chaos. Aber Großbritannien ist dennoch eine etablierte Demokratie. Als Schriftsteller kann man frei reden. Man muss keine Angst haben, dass man vor Gericht kommt. Ich bin mir jedoch darüber im Klaren, dass kein Land in der Welt immun gegen den Aufstieg der Rechten, dass kein Land immun gegen toxische Politik und toxischen Populismus ist. Niemand von uns sollte es sich zu bequem machen. Keiner sollte sagen: Wir sind eine reife Demokratie und haben alles im Griff. Geschichte kann sich rückwärts entwickeln. Für Demokratie muss sich jeder anstrengen.

In Deutschland, dem Land mit der Nazi-Vergangenheit, steht die AfD verlässlich bei zehn, elf Prozent oder mehr.

Shafak: Das verfolge ich. Jeder dachte oder denkt, dass in Deutschland nach den Erfahrungen des Faschismus rechte Parteien chancenlos sein müssten. Aber so funktioniert menschliche Erinnerung nicht: Sie ist nicht permanent Warnung. Wir dürfen Dinge nicht als selbstverständlich betrachten. Und wir müssen verstehen, dass Demokratie ein fein austariertes Ökosystem aus Checks and Balances ist. Wir müssen Anstrengungen unternehmen, engagierte Bürger sein.

Die deutsch-türkische Community hat ein entschiedenes Bild, wie der türkische Staat auszusehen hat. Nämlich genau so, wie Erdogan sich das vorstellt.

Shafak: Zunächst einmal scheint mir, dass sich die Immigranten-Communitys von Land zu Land unterscheiden. Die Deutsch-Türkische Community ist sehr vielfältig. Es gibt viele progressive Stimmen unter den Türken in Deutschland, aber auch viele Unterstützer der AKP. Für Großbritannien gilt letzteres nicht.

Warum ist das so?

Shafak: Teilweise aus politischen, teilweise aus soziologischen Gründen. Ein Grund ist sicherlich, dass viele der nach Großbritannien eingewanderten Türken der Mittelschicht angehören. Sie kamen aus Zypern oder aus türkischen Städten, um in England zu studieren oder in qualifizierteren Jobs zu arbeiten. Die erste Generation der Türken, die nach Deutschland kamen, waren oft Gastarbeiter aus ländlichen Gegenden. Sie erlebten Anpassungsschwierigkeiten. Ihre Beziehung zum Gastland war von Anfang an anders, das ist vielleicht einer der Gründe für die Mentalitätsunterschiede.

Elif Shafak: „Unerhörte Stimmen“, Übersetzung von Michaela Grabinger, 432 S., 24 Euro.
Elif Shafak: „Unerhörte Stimmen“, Übersetzung von Michaela Grabinger, 432 S., 24 Euro.

Die Türkei ist insgesamt eher konservativ. Dennoch gibt es natürlich auch progressive Kräfte. Wie stark sind die derzeit noch?

Shafak: Die Kultur ist konservativ und patriarchalisch geprägt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei gleichzeitig ein komplexes Land ist. Die Gesellschaft ist vielschichtig. Derzeit hören wir vielleicht ihre Stimmen nicht, aber es gibt hier viele Menschen, die an die Demokratie glauben und sich als Weltbürger sehen. Diese Menschen sind derzeit unglücklich und demoralisiert. Wie es wirklich in der Türkei mit der Unterstützung des Kurses der Regierung aussieht, mögen die Wahltage demonstrieren. Man darf nicht vergessen, dass die Medien in der Türkei kontrolliert werden, dass das Internet stark reglementiert ist und Wikipedia nicht aufrufbar. In der Türkei wird alles von oben kontrolliert, die Opposition hat medial überhaupt keine Durchschlagskraft – oder sie befindet sich im Gefängnis – und dennoch stimmt die Hälfte der Menschen kontinuierlich gegen die Regierung. Zuletzt hat sie in den Wahlen alle großen Städte verloren.

Dennoch hat Erdoganes geschafft, die Istanbul-Wahl ad absurdum zu führen.

Shafak: Undemokratische Nationen sind unglückliche Nationen. Der Wirtschaft geht es nicht mehr gut. Es ist komplett inakzeptabel und unfair, was in Istanbul passiert ist: Dass die Wahl einfach als ungültig erklärt wird, nur weil der Regierung das Ergebnis nicht passt.