Hamburg. Theatermacherin Marina Davydova arbeitet zum ersten Mal am Thalia. Kirill Serebrennikow und Situation in Russland kennt sie gut.

Marina Davydova ist leicht erkältet, aber sie spricht sich schnell warm. Die renommierte Moskauer Festivalleiterin, Theatermacherin und Theaterkritikerin zeigt am Sonnabend mit „Checkpoint Woodstock“ ihre erste eigene Theaterproduktion im Thalia in der Gaußstraße. Ein Gespräch über das Erbe der 1968er in Ost und West, die Beatles und die Situation des in Moskau vor Gericht stehenden Regisseurs Kirill Serebrennikow, mit dem Davydova eine enge Freundschaft verbindet.

Hamburger Abendblatt: Was hat Russland mit dem legendären dreitägigen Rockfestival Woodstock 1969 zu tun?

Marina Davydova: Woodstock ist 50 Jahre her. Es gab mit der 1968er-Bewegung den Versuch eine soziale Utopie zu bauen. Von den Träumen, Hoffnungen, Illusionen, die die Menschen hatten, waren einige naiv, andere brilliant, wieder andere schrecklich. Aber es gab eine idealistische Kraft. Jetzt wissen wir, die Dinge funktionieren noch nicht, und wir haben keine Idee, wie es weitergeht. Eine Epoche geht zu Ende. Auf der anderen Seite haben wir diesen Rechtsruck. In Russland ist das so offensichtlich, dass es kaum lohnt, darüber zu reden. Aber eben auch anderswo.

Die Hippies der 1968er-Bewegung haben den Osten ja idealisiert, häufig ohne ihn zu kennen. Im Osten wurde der Westen, die Freiheit, glorifiziert, wie bringen Sie das zusammen?

Davydova: Ich vermische es nicht. Ich versuche zu erklären, wie unterschiedlich diese Bewegungen waren. Ich erzähle aus der russischen Perspektive, die natürlich eine andere ist. Da gab es nur eine ganz kleine Gruppe und viele Probleme.

In „Checkpoint Woodstock“ wird in Moskau ein von Putin bestelltes Museum zur Hippie-Kultur eröffnet – klingt ziemlich verrückt...

Davydova: Es ist ein symbolischer Akt. Sich Dinge als Museumsobjekte anzuverwandeln, ist ganz typisch für die aktuelle russische Situation. Das ist natürlich überspitzt und komisch. Aber die historischen Anspielungen sind wahr. Ich verbinde kurze Episoden mit meinen Ideen über die Epoche.

Das Skript liest sich sehr satirisch mit vielen schönen Details. Zum Beispiel waren in Russland auch die Beatles beliebt, obwohl sie verboten waren.

Davydova: Ja, man hat sie trotzdem gehört. Es gab Alben von „dieser speziellen Band aus England“. Die Beatles hatten viele Namen. Manchmal wurden Songs von verschiedenen Alben zu einem neuen russischen Album gemischt. Wenn man hinter einem eisernen Vorhang lebt, kann man sich Dinge erlauben, die in der freien Welt verboten sind. Die Probleme mit dem Urheberrecht bekamen wir erst, als die Sowjetunion zerfiel.

Manche haben ja gedacht, wenn der eiserne Vorhang fällt, wird es das Paradies sein. Dann fiel der Vorhang, wie hat sich der Blick auf den Westen verändert?

Davydova: Wir haben jetzt ähnliche Probleme. Aber auch heute ist Russland ein anderer Planet. Wer drei Tage in Moskau zu Besuch ist, wird es nicht merken. Wir haben Internet in der Metro. Die Züge sind pünktlich. Um zu verstehen, was nicht gut läuft, muss man dort leben. Wenn ein Freund verhaftet wird, begreift man, dass etwas nicht stimmt. Der Regisseur Kirill Serebrennikow ist nur ein öffentlicher Fall. Es gibt unendlich viele davon. Das kann einen Bäcker in einem Dorf treffen und niemand weiß, warum.

Wie erklären Sie sich die überraschende Aufhebung des zwei Jahre dauernden Hausarrests von Serebrennikow?

Davydova: Es gibt keine wirkliche Jurisdiktion. Alles wird entschieden durch den Kampf zweier Türme im Kreml, eines liberalen und eines konservativen. Serebrennikow ist eine Geisel in diesem Kampf. Nun hat offenbar der liberale Turm für einen Moment gewonnen. Es ist aber noch nicht vorbei. Der Prozess wird fortgesetzt. Der andere Turm kann jederzeit die Überhand gewinnen. Der Richter hat eine Entscheidung bereits in der Tasche. Gibt aber vor, eine richtige Anhörung zu leiten, die vier bis fünf Stunden dauert.

Das heißt, Sie setzen sich auch weiterhin öffentlich für ihn ein?

Davydova: Wir dürfen jetzt nicht schweigen. Viele Faktoren beeinflussen den Prozess. Das ist einer davon, sicher nicht der wichtigste. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir beharrlich bleiben.

Wie ist Ihre eigene persönliche Situation, Sie arbeiten in Hamburg, Berlin und Wien. Macht Sie das unangreifbar?

Davydova: Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, sonst würde ich mit allem aufhören. Für das Theatermagazin, das Festival, das ich in Moskau leite, die Regie, für all das brauche ich Energie. Meine erste Produktion „Eternal Russia“, die sehr erfolgreich in Berlin lief, wurde international eingeladen und mit Preisen bedacht, es wäre logisch, sie in Russland zu zeigen. Drei Mal ist es im letzten Augenblick verhindert worden.

Wie geht es Kirill Serebrennikow im Augenblick?

Davydova: Natürlich ist er erleichtert. Er hat so viel gearbeitet in seinem Hausarrest, dass ihm für Depressionen keine Zeit blieb. Ich hoffe, dass ihn das nicht einholt. Auch für mich ist Arbeit der einzige Weg, gesund zu bleiben. Weitermachen, Artikel schreiben, Stücke schreiben. Es gibt nur eine Chance: Man muss ehrlich mit sich selbst sein.

„Checkpoint Woodstock“ Uraufführung Sa 27.4., 20.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44