Hamburg . Der britische Autor las im Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Blinde Liebe“ – vorher sprach er Klartext.

Als er wissen wollte, warum ihm ein Rachmaninow-Klavierkonzert, Brahms‘ Horntrio, Rock aus Schottland oder eine Portion Bluegrass so ans Herz gehen, hatte William Boyd den Ausgangspunkt für sein nächstes Buch entdeckt. Er fragte einen seiner Freunde, den Filmmusikkomponisten Patrick Doyle, wie das sein kann, und er schaute einem Londoner Klavierstimmer bei seiner Arbeit an Flügel-Innereien auf die Finger, weil er ebenso ganz genau wissen wollte, wie diese Maschinen funktionieren, wenn sie kleine Punkte auf liniertem Papier wahr werden lassen.

Drei Jahre später - zwei Jahre Textkonstruktionszeichnen, das Routine-Tempo des ehemaligen Literaturdozenten an einem College in Oxford, danach ein Jahr stetiges Schreiben - war das Tränendrüsen-Rätsel zwar nicht gelöst. Doch „Blinde Liebe“ war fertig, ein Roman, der bestens in den facettenreichen Werkkatalog des Dauerbestseller-Autors passt.

"Die romantische Vorstellung des Autors als Künstler ist eine Fantasie"

Vor seiner Lesung im Hamburger Literaturhaus berichtete Boyd bei Assam-Tee - ohne Milch und Zucker, gut durch – im Hotel Vier Jahreszeiten über die Feinmechanik seiner Erzählmethode, die er „realistische Fiktion“ nennt, weil sich alles so wahrscheinlich liest, als könnte man seine Charaktere bedenkenlos googeln. „Die romantische Vorstellung des Autors als Künstler ist eine Fantasie“, sagte Boyd zu diesem Thema, „einen langen Roman zu schreiben, das ist eine technische Herausforderung. Fred Astaire lag ganz richtig: Wenn etwas schwierig wirkt, hat man sich nicht genügend angestrengt.“

Die x-te „Boy meets Girl“-Variation wäre zu einfach gewesen, Boyd schreibt viel lieber über Lebenswelten, mit denen er zuvor keinen Kontakt hatte: Mathematiker, Klimaforscher, sogar Spione, doch dazu später. Er machte daraus also „Klavierstimmer aus Schottland trifft Virtuosen aus Irland und beginnt Affäre mit dessen Geliebter aus Russland“.

Das alles platzierte er auf der Türschwelle zum 20. Jahrhundert, in Paris und St. Petersburg. Ein Duell und andere Anspielungen auf Boyds Bibliotheks-Heiligen Tschechow sind clever in den Zeilen versteckt; sogar Mahler, Proust und James Joyce tauchen am Bildrand auf, sagt er amüsiert, alle anonym. „Ich mag Romane mit mehreren Ebenen, falls man diese Dinge nicht findet, schadet es nicht weiter, falls doch, sind sie schöne Extras.“ Für die Tragik hat Boyd mit Tuberkulose nachgewürzt.

"Ich wünschte jetzt, ich könnte, was meine Romanfigur kann"

Die unausweichliche Einstiegsfrage war schnell beantwortet: Einige Jahre mühsamer Klavierunterricht zu Schulzeiten, mit dem Vater im Nacken, „aber ich war extrem schlecht, und ich wünschte jetzt, ich könnte, was meine Romanfigur kann“. Geblieben ist die Liebe vor allem zu Brahms, aber auch ein Faible für zweit- und drittklassige englische Komponisten des späten 19. Jahrhunderts. Und dass es bislang weder Klagen noch Einsprüche von echten Musikern gab, macht Boyd durchaus stolz auf seinen 15. Roman.

Müde Mähren, für die er sich nachträglich entschuldigen möchte, seien nicht unter seinen Büchern, findet er. Wegen der langen Vorbereitungszeit habe er alle Fehler ja bereits gemacht, bevor das Schreiben begann. Und als Anfänger hatte Boyd drei Romane in der Schublade, bevor 1981 „Unser Mann in Afrika“ sein Debüt wurde, diese Fingerübungen hat er für spätere Romane ausgeweidet.

"Der gesamte Brexit-Plot ist einfach zu banal"

Weil Boyd sich als Autor „realistischer Fiktion“ bezeichnete, und weil sich Theresa May zeitgleich zum x-ten Mal großkalibrig ins Knie schoss: Wie sieht es mit dem ersten großen Brexit-Roman aus? „Well“, beginnt Boyd seufzend, „ich glaube, dafür ist es noch viel zu früh. Wo bleibt der große Roman zum 11. September 2001? Wenn man auf die großen Romane der Vergangenheit blickt, entstanden sie oft erst 25, 30 Jahre nach der Zeit, von der sie erzählen: Joyces ,Ulysses’, Eliots ,Middlemarch’, Tolstois ,Krieg und Frieden’.“ Den aktuellen Irrsinn in Westminster würde einem Autor jetzt sowieso niemand glauben? Ein weiteres „Well“ des eingefleischten Labour-Wählers, für den May, „die schlechteste Premierministerin in der Geschichte britischer Politik“ ist.

„Stammeskriege in den großen Parteien brachten unser Land in dieses riesige Durcheinander“. Cameron damals, der das Elend lostrat, und nun May und Corbyn, „zwei total unfähige Parteichefs, und beide sind auch noch entsetzlich schlechte Kommunikatoren. Der gesamte Brexit-Plot ist einfach zu banal. Während meiner Studentenzeit in den frühen 1970ern war Großbritannien der kranke Mann Europas - jetzt ist es das verrückte Rind.“ Er habe Nachsicht verspürt, dann Verzweiflung, Zorn und Gleichgültigkeit. „Jetzt aber schäme ich mich, für unsere Politiker, für das, was mit unserem Land geschieht. Womöglich wird sich unsere Politik nie wieder davon erholen.“

Der nächste Roman von Boyd kommt Ende 2020

Eine Once-in-a-lifetime-Etappe in Boyds Autorenkarriere war die 2013 vorgelegte Auftragsarbeit „Solo“, ein James-Bond-Roman im Windschatten der Klassiker von Ian Fleming. Da die Casting-Debatte gerade läuft: Wer löst Daniel Craig ab? Eine Frau? „Interessante Frage… Ich vermute, der nächste James Bond wird keine Frau sein. Ich tippe auf einen Engländer als nächsten Bond. Oder vielleicht ein Schotte. Sie hatten keinen seit Connery.“ Und dass nach dem Roman bei Boyd schon wieder vor dem Roman ist, bestätigt er am Ende des Teeplauschs auch noch. „Diesmal bin ich schneller als sonst – nur zwei Jahre statt drei, er kommt Ende nächsten Jahres.“

Also ist er nicht so gut? Boyds ansatzloser Return: „Ich habe viel länger als sonst darüber nachgedacht. Und ich werde älter. Also: Warum nicht einfach losschreiben? So viel kann ich Ihnen verraten: Er spielt 1968. Wir hatten damals in England zwar keine Studentenproteste wie in Deutschland oder in Frankreich, doch es war wegen der weltweiten Erschütterungen – der Vietnam-Krieg, der Anschlag auf Martin Luther King - ein wirklich sehr interessantes Jahr.“