Hamburg. Die Abendblatt-Kulturredaktion hat sich quer durch die Frühjahrsprogramme gearbeitet und stellt einige empfehlenswerte Titel vor.

Das Beste an der Frühjahrsbuchmesse ist das begleitende Festival „Leipzig liest“. Denn darum geht es zumindest für das Publikum ja wirklich: die heißesten und aufregendsten und ganz einfach tollsten Autorinnen und Autoren der Saison an ganz verschiedenen städtischen Orten vortragenderweise zu erleben. 500 Orte, 3600 Veranstaltungen. Wow.

In den Messehallen selbst wird es zwischen dem 21. und 24. März bei den Verlagen schon um den Literaturherbst gehen. Oder um die Sorge, die seit der Insolvenz eines großen Zwischenbuchhändlers umgeht, der dafür sorgte, dass Buchhandlungen innerhalb von 24 Stunden beliefert werden können. Oder, wie immer, ganz allgemein um die Krise des Bücherverkaufens, die x-mal schon behauptet wurde und irgendwann tatsächlich mal wahr sein könnte. Es könnte aber auch um Aufbruch gehen. So, wie ihn der jetzt wieder Hamburger Rowohlt-Verlag vormacht: mit neuem Standort direkt am Hauptbahnhof und neuem Verleger.

Gastland ist Tschechien

Florian Illies hofft übrigens darauf, dass Rowohlt-Autor Matthias Nawrat am Eröffnungstag den Preis der Leipziger Buchmesse bekommt. Im Vorjahr hatte Esther Kinsky den Preis erhalten. Gute Bücher haben aber in diesem Frühjahr auch andere herausgebracht: Rocko Schamoni zum Beispiel („Große Freiheit“) oder Saša Stanišić („Herkunft“), um zwei Hamburger Autoren zu nennen.

Tschechien ist das Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse (im Herbst in Frankfurt wird es Norwegen sein). Auch der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis ist – mit „Winterbergs letzte Reise“ – für den Buchpreis nominiert. Es ist sein erster Roman in deutscher Sprache, Rudis’ Werke wurden hierzulande bislang aus dem Tschechischen übersetzt.

Und neben der Nominiertenliste, die eine natürliche Aufmerksamkeit im Buchhandel bekommen wird? Auf dieser Seite stellen wir Bücher vor, deren Lektüre ebenfalls lohnt: die Frühjahrslesetipps der Abendblatt-Kulturredaktion also, kurz und bündig. Wir wünschen, wie immer, schöne Entdeckungen und angenehme Lektürestunden.

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T.C.Boyle

Per LSD-Trip zum Weltfrieden

Sex wie von einem anderen Stern, das Gefühl, mit dem Universum zu verschmelzen, anlasslose Freude, die den ganzen Körper durchströmt: Es ist schon nachvollziehbar, warum Fitz, Psychologie-Doktorant in Harvard, und seine Frau Joanie von den LSD-Experimenten des charismatischen Gast-Professors Timothy Leary einfach nicht genug bekommen können. Erst sind es wöchentliche Sessions, die die chemische Bewusstseinserweiterung vorantreiben sollen, dann entsteht eine Drogenkommune mit sektenähnlichen Zügen, in der auch Kinder und Jugendliche regelmäßig eine Dosis Halluzinogene bekommen.

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In „Das Licht“ (Hanser, 25 Euro) zeichnet T. C. Boyle anhand eines individuellen Schicksals ein Stück amerikanischer Drogengeschichte nach. Wird hier die Tür zum Paradies aufgestoßen? Oder doch eher zur Hölle? In jedem Fall eine faszinierende Geschichte aus einer Zeit, in der für ein paar Jahre alles möglich schien, sogar der Weltfrieden dank LSD-indizierter Erleuchtung. Ein packender Trip mit großer erzählerischer Kraft, in dem Modern Jazz und die Beatles ebenso eine Rolle spielen wie die Ermordung John F. Kennedys und die Kommune von Schriftsteller Ken Kesey („Einer flog über das Kuckucksnest“). (hot)

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Julia Trompeter

Eine Frau flieht nach Holland

Die Autorin Julia Trompeter, geboren in Nordrhein-Westfalen, arbeitet in Utrecht an der Universität. Was ihr glücklicherweise Raum zum Schreiben lässt, gerade ist ihr Roman „Frühling in Utrecht“ (Schöffling, 22 Euro) erschienen. Trompeter verbindet darin sehr poetisch ihre Erfahrungen als Deutsche in Holland mit dem Philosophieren über Feinheiten und Unterschiede der Sprache(n).

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Ihre Hauptfigur Klara ist ein Flüchtling. Nicht politisch, sondern privat. Sie will einem Mann und einer Kneipe entfliehen. Nicht irgendwo hin also, sondern vor allem weg – von Berlin, von Hauke. Weg von der „Relatieverslaving“, so beschreibt es eines dieser schönen, neuen, holländischen Wörter in ihrem Leben. Klara lernt, dass das Niederländische beeindruckende 37 Sprichwörter parat hat, worin Wind eine Rolle spielt.

Und dass man dazu neigt, sein Leben als eine Geschichte zu begreifen. In den „dagboek­artigen Memoiren“, deren Kapitel stets niederländische Titel tragen, kommt außerdem ein junger Holländer namens Thijs vor, etwas Liebe, etwas Verzweiflung, etwas (Selbst-)Erkenntnis. Genau richtig zum Frühlingsanfang. Eigentlich. Ein bisschen fühlt es sich trotzdem an, als habe der Titel nach der Bluttat von Utrecht seine Unschuld verloren. (msch)

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Han Kang

Die Masken, die wir tragen

In den Büchern der südkoreanischen Autorin Han Kang spielt die Lebensverweigerung der Figuren eine zentrale Rolle. Auch in „Deine kalten Hände“ (Aufbau Verlag, 22 Euro). Diesmal ist es eine übergewichtige junge Frau, deren Körper sich bald durch eine Bulimie einmal mehr stark verändern wird. Sie fasziniert den bildenden Künstler Jang Unhyong nachhaltig. Er fertigt eine Vielzahl Gipsabdrücke von ihren Händen und ihrem Körper an und taucht in eine seltsame Nicht-Beziehung mit ihr ein.

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Han Kang, die vor zweieinhalb Jahren mit dem Roman „Die Vegetarierin“ bekannt wurde, zeigt sich bereits in diesem frühen, jetzt übersetzten Werk als Autorin, die mit ihrem kargen, ungekünstelten Stil gleichermaßen Poesie und Geheimnis erzeugt. Alle Figuren tragen ein Rätsel mit sich herum, auch der eines Tages verschwindende Bildhauer, durch dessen Tagebuch sich das Geschehen mitteilt. Der Titel seiner Ausstellung, „Häutung“, ist die entscheidende Metapher für die Metamorphosen, Maskeraden und den faszinierenden Umgang mit Körperlichkeit und Material. (asti)

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James Baldwin

Der wiederentdeckte Afroamerikaner

In den 50er- und 60er-Jahren war James Baldwin (1924–1987) eine der wichtigsten afroamerikanischen Stimmen in den USA. Dann geriet der Erzähler und Essayist etwas in Vergessenheit. Mit der „Black Lives Matter“-Bewegung kam dieser unermüdliche Kämpfer gegen den Rassismus wieder in den Fokus. Bei dtv sind jetzt einige lange vergriffene Werke von Baldwin in neuen Übersetzungen wiederveröffentlicht worden, etwa der Roman „Beale Street Blues“, dessen Verfilmung gerade in den hiesigen Kinos läuft, und der Essay-Band „Nach der Flut das Feuer“ (dtv, 18 Euro), in dem James Baldwin schwarze Identität reflektiert.

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Er beginnt mit einem Brief an seinen 15 Jahre alten Neffen, in dem er ihm deutlich macht, was er in einer weißen Gesellschaft zu erwarten hat: „Du bist in eine Gesellschaft hineingeboren, die Dir mit brutaler Offenheit zu verstehen gibt, dass Du ein wertloser Mensch bist“, schreibt Baldwin 1962. Ein Satz, der mehr als 50 Jahre später angesichts vieler schwarzer Opfer durch Polizeigewalt und eines nicht überwundenen Rassismus in den USA immer noch Gültigkeit besitzt. (oeh)

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Aura Xilonen

Ein Junge boxt sich nach oben

„Ich kann mich in ein andres Leben hangeln, wenn ich diese fokkin Meridianer trashe. Bin schließlich tot auf die Welt gekommen und habe kein Fünkchen Schiss“, so denkt Liborio nicht nur, so spricht er auch. Liborio ist die Hauptfigur in Aura Xilonens Debütroman „Gringo Champ“ (Hanser, 23 Euro).

Im Teenageralter flieht der Waisenjunge aus Mexiko in die USA. Halb verdurstet, mit geschundenen Knochen schafft er es ins gelobte Land. Dort boxt Liborio sich wortwörtlich nach oben. Während der Arbeit in einem Buchladen entdeckt er die Literatur für sich. „Hirnverbranntes Stück, lies gefälligst was, wenigstens die Klappentexte, damit du weißt, worum es verdammt noch mal geht, und du ein fokkin Book verkaufen kannst!“, wird er vom Chef angefahren, bevor er Gefallen an Dante und Dickens findet.

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Und dann ist da noch Aireen, das Mädchen von gegenüber. Die konträren Erzähl-Ebenen werden sprachlich durch einen furiosen Mix aus Slang, Neologismen und längst vergessen geglaubten Wörtern unterstrichen. Die Sprache ist es auch, die den Roman, den die mexikanische Autorin mit gerade 19 Jahren schrieb, so außergewöhnlich macht. (joa)

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Ulrich Woelk

Die Rakete im Wohnzimmer

Als vor 50 Jahren, am 21. Juli 1969, die ersten beiden Menschen überhaupt auf dem Mond landen, macht der elfjährige Tobias zeitgleich im Wohnzimmer des elterlichen Bungalows am Stadtrand von Köln eine Beobachtung, die eine Handlungskette in Gang setzt und in einer Tragödie endet. Dem Schriftsteller Ulrich Woelk, der auch promovierter Physiker ist, gelingt in seinem inzwischen zwölften Roman „Der Sommer meiner Mutter“ (C. H. Beck, 19,95 Euro) die kurzweilige Verbindung von deutscher (Nachkriegs-)Geschichte und astronomischer Wissenschaft. Von ersten Erotik-Versuchen und historischem Weltraum-Geschehen.

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Eine kluge Erzählung ist Woelk da gelungen, und zwar in gewohnt nüchterner, fast lapidarer Sprache. Über das Anderssein und den Umgang mit Schuld. Über die unerfindlichen Wege der Liebe, die nicht nach richtig und falsch fragt, und die anschließende Emanzipation, die unvermeidliche. Am Ende steht die Erkenntnis, dass eine Mondlandung allemal leichter ist als das Meistern des Lebens. Apollo 11 ließ sich steuern. (haa)

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Mathijs Deen

Suche Haus am Meer, biete Liebe

Unter den vielen seltsamen Liebesgeschichten der Literatur ist diese wohl eine der seltsamsten. In dem Roman „Unter den Menschen“ (Mare Verlag, 20 Euro), er stammt von dem Niederländer Mathijs Deen, sucht der nach dem Tod der Eltern vereinsamte Bauernsohn Jan mit einer ultraknappen Anzeige eine Frau für sich und seine 80 Hektar zu bewirtschaftendes Land. Und es meldet sich tatsächlich jemand. Die junge Frau mit dem Namen Wil ist allerdings eher an einem schicken Wohnort am Meer als an einem möglichen neuerlich gebrochenen Herzen interessiert. Nach einigem Hin und Her bleibt sie.

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Deen schildert ziemlich schonungslos, aber ohne seine Protagonisten zu verraten, die Eigenheiten dieser beiden Figuren: des unerfahrenen Landmenschen also, dessen erste Freundin von der Mutter vertrieben wurde, auf der einen und der durchtherapierten, auf Selbstbestimmtheit geschulten Stadtfrau auf der anderen Seite. Inmitten all der Missverständnisse und Sprachlosigkeiten stellt sich am Ende nicht notwendigerweise Liebe, aber doch so etwas wie Familie ein. (asti)

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Miriam Toews

Frauen, die ihre Stimme erheben

Es war keine Einbildung. Es waren keine Geister, keine Dämonen, und es war auch nicht Satan. Es waren die Männer, die nachts kamen. Zu ihren Frauen, Schwestern, Nichten, Nachbarinnen, auch ein erst dreijähriges Mädchen wurde nicht verschont. „Ungebetene Besucher“, wie die Vergewaltiger euphemistisch von den Ältesten genannt werden. Es ist schockierend, worüber Miriam ­Toews fast nüchtern und doch so zugewandt schreibt, umso mehr, wenn man weiß, dass ihr Roman „Die Aussprache“ (Hoffmann und Campe, 22 Euro) auf einem wahren Fall beruht.

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Der kanadische Bestseller erzählt aus einer mennonitischen Gemeinde, einer geschlossenen, patriarchalen autoritären Welt. „Wir sind Frauen ohne Stimme“, stellt eine von ihnen fest. Doch die Frauen ohne Stimme verbünden sich, und sie entschließen sich, etwas zu ändern. Weggehen? Kämpfen? Vergeben? Rächen? Auf einem Heuboden und unter Zeitdruck müssen die Frauen entscheiden. Sie wollen das Recht, zu denken, zu lesen, zu schreiben. Miriam Toews erzählt – ausgerechnet mit männlichem Ich-Erzähler – eine kraftvolle weibliche Selbstermächtigungsgeschichte. (msch)

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Hanya Yanagihara

Im moralischen Dschungel verlaufen

Zwei Jahre nachdem Hanya Yanagihara ihren fast 1000 Seiten langen Roman „Ein wenig Leben“ auf Deutsch veröffentlichte, mit dem sie auf die Shortlist des renommierten Booker Prize kam, kommt jetzt auch bei uns ihr Romandebüt in den Handel. „Das Volk der Bäume“ (Hanser, 25 Euro) erschien erstmals 2013. In beiden Büchern geht es um sexuellen Missbrauch. Die US-Autorin, im „Nebenberuf“ Redakteurin vom „T Magazine“ der „New York Times“, schildert hier eine ebenso faszinierende wie abgründige Geschichte.

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Auf der Karibikinsel Ivu’ivu macht der junge Arzt Norton Perina bei einem als verschollen geglaubten Steinzeitvolk eine unglaubliche Entdeckung. Die Menschen scheinen dort ewig zu leben. Natürlich versucht er das Geheimnis zu lösen und entdeckt, dass es etwas mit dem Verzehr einer seltenen Schildkrötenart zu tun hat. Mit der Langlebigkeit geht jedoch ein geistiger Verfall einher. Perina gewinnt den Nobelpreis, zerstört die Kultur des Volkes und adoptiert viele seiner Kinder. Später wird der pädophile Mann wegen Missbrauchs verurteilt. Kann man als Mensch ein Monster sein und als Forscher ein Genie? Der Dschungel ist in diesem Roman auch ein moralischer. (vob)

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Günter Kunert

Was noch im Keller herumlag

Auch die Literatur braucht gute Geschichten. Nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln. Die beste aus diesem Frühjahr stammt von Günter Kunert: Der lang gediente Dichter fand in seinem Keller in Kaisborstel bei Itzehoe, wo er seit Jahrzehnten lebt, das Manuskript eines Mitte der 70er-Jahre geschriebenen Romans. Damals lebte Kunert noch in der DDR, wo „Die zweite Frau“ (Wallstein, 20 Euro) aus offensichtlichen Gründen nicht erscheinen konnte: Zu ehrlich und zu ironisch beschreibt Kunert, der Anfang des Monats 90 Jahre alt wurde, hier das Alltagsleben des sozialistischen Staates.

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Der Romanheld heißt Barthold und versucht, zumindest halbwegs erfolgreich, sich gedanklich den Zumutungen und Narrativen der DDR zu entziehen. Damit bringt er sich und seine Frau in Schwierigkeiten. Die Story ist aber beinahe nur zweitrangig: Lebendige Zeugnisse des DDR-Lebens sind die Schilderungen von Stasi-Allgegenwart und natürlich der Mangelwirtschaft. Aber über alldem schwebt mehr als nur ein Hauch Montaigne, der der Lieblingsschriftsteller Bartholds ist und der diesen stets aus der grauen Wirklichkeit zu hieven vermag. (tha)