Hamburg. Der Tocotronic-Chef und Hamburger-Diskursrock-Veteran veröffentlicht ein intimes Buch – und verrät überraschende Details
Vor einem Jahr erschien das Tocotronic-Album „Die Unendlichkeit“. Es versammelte Lieder aus dem Leben des Dirk vom Lowtzow, war also eine Art vertonte Autobiografie. Was in Stücken wie „Electric Guitar“ und „Hey Du“ abgehandelt wurde, waren etwa die jugendliche Erweckung durch Popmusik und die Position des Außenseiters. Wer es noch konkreter als im Format des Popsongs mag, der kann jetzt Dirk von Lowtzows Memoir „Aus dem Dachsbau“ lesen, eine Zusammenstellung von Textminiaturen, die lose miteinander verbunden sind und Spotlights auf Herkunft, Sein und Werden des Tocotronic-Frontmannes werfen.
Dabei wird eine Künstler- und Bohemeexistenz konturiert, und es wird ein Horizont der Fantasie geöffnet. In der alphabetisch gehaltenen Textsammlung schreibt sich Lowtzow von frühkindlicher Science-Fiction- und Horrorbegeisterung („Aliens“) über nächtliche Cola-Zero-Exzesse („Aufruhr“) und Freundschaftsbekundungen („Cosima“), über grausige Erinnerungen an Jugendfreizeiten mit Bürgerkindern („Junge Union“), mit dem Älterwerden einhergehenden Putzfimmeln („Kalk“), Gaga-Poesie („Lotso“), jugendliche Verliebtheiten („Peter O’Toole“), über nie verwirklichte Musical-Ideen („Yves“) zum Fluchtpunkt seiner Reflexionen („Zeit“).
Ein Leben im Literaturmixer
Es ist, in einem Wort, ein in den Literaturmixer geworfenes Künstler- und Intellektuellenleben, das sich hier entblättert. Ein Künstlerroman in Vignetten, der mal ernst, mal spielerisch in den Tiefen der Biografie gräbt. Lowtzow, der in einem seiner Songs von der „Schwarzwaldhölle“ singt, markiert seine Herkunft auch in „Aus dem Dachsbau“ genau: Es ist der Ort, dem er entkommen musste und dem er letztlich aufgrund seiner popkulturellen Interessen auch entkam. Hamburg ist die erste Sehnsuchtsadresse, die Stadt, in der der Indierock zu Hause ist. Einmal, noch im Teenageralter, fährt er mit seinem besten Freund in den Norden, um die Goldenen Zitronen zu besuchen. Als sie im Fischmarkt an der bekannten Adresse klingeln, macht indes niemand auf. Das ist keine Metapher für das, was folgen sollte. Anfang der Neunziger lernt Lowtzow als Student in Hamburg Jan Müller und Arne Zank kennen. Der Rest ist Geschichte, mit Tocotronic erfand Lowtzow den deutschsprachigen Indierock neu, und dennoch geht es um die Band immer nur am Rande.
Es geht um Porträts des Künstlers als junger, nicht mehr so junger und mittelalter Mann; das Selbstporträt eines Mannes, der früh den bereits genannten besten Freund Alexander verliert, der zu viel raucht und, in reiferen Jahren, in die Kurklinik geht, um zur Ruhe zu kommen. Lowtzow schreibt über die Räume und wie er sich in ihnen bewegt: Er checkt sie alle daraufhin ab, ob er sich in ihnen geborgen fühlt. Einmal berichtet er vom seinem Klopapierverbrauch: „Manchmal hatte ich den Wunsch, mich im Badezimmer vollständig einzuwickeln, so wie es Kinder tun, wenn sie Mumie spielen. In diesem Kokon wäre ich sicher, warm und geborgen.“ Die Leere nach den Tourneen, auch die kreativen Prozesse und Müßiggängereien – manchmal geht er zu Edeka und beobachtet die Teenager, wie sie sich Chips und Limonade kaufen – sind Gegenstand des Buches, dies erlaubt einen persönlichen Blick auf einen Zeitgenossen, der sich in den Liedtexten seine Sperrigkeit bewahrt hat.
Mit Gitarre ist er noch besser
Poetische Einschübe („Ekstase“) und das, durch das sie inspiriert wurden (ein Coverabdruck: „Ecstasy And Me. My Life As A Woman by Hedy Lamarr“), stehen nebeneinander. Den Schöpfer von Songzeilen wie „Im Zweifel für den Zweifel/Und für die Pubertät/Im Zweifel gegen Zweisamkeit/Und Normativität“ erhellen die Texte in dem Bändchen unbedingt. Bleibt die Frage nach der literarischen Güte. Da bleibt festzuhalten: Lowtzow-Texte sind dann immer am allerbesten, wenn sie von Gitarren begleitet werden.
Dirk von Lowtzow: „Aus dem Dachsbau“. Kiwi. 180 S., 20 Euro