Hamburg. Hamburger Punklegende Jens Rachut hat sein Stück „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“ inszeniert. Premiere im Malersaal.

Ein guter Punksong sollte kurz sein. Er sollte dreckig und hässlich sein, er sollte laut sein, und er sollte am Ende überraschen. Er sollte allen Vorgaben, wie er zu sein habe, höhnisch den Mittelfinger zeigen. Die Hamburger Punklegende Jens Rachut hat ein Theaterstück geschrieben, „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“, und das erweist sich bei der Premiere im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses mit einer Stunde Spieldauer schon mal als hinreichend kurz. Außerdem handelte es von Siechtum und Tod – Themen, die selten hübsch sauber sind, sondern dreckig und hässlich, passt also ebenfalls.

Ansonsten aber ist „Rainer Gratzke“ nicht das erwartete, hingeworfene Stück Kreativabfall, sondern echtes Theater im Geiste Samuel Becketts.

Der Titelheld, gespielt von Josef Ostendorf, liegt krebskrank im Hospiz Moostropfen und wartet auf den Tod. Er ist der letzte Patient; sobald er in absehbarer Zeit eingeschlafen ist, soll das ­Gebäude abgerissen werden. Und bis es so weit ist, redet Gratzke noch: Er reißt schlechte Witze, rekapituliert sein ­Leben, ficht kleine Kämpfe mit dem Pflegepersonal (Gala Othero Winter sowie Rachut selbst) aus. Zwischendurch werden letzte Leichen ins Krematorium gefahren, ein Gespenst (Emanuel Bettencourt) geistert durch die Wände und setzt dem Gummibaum übel zu, und auf der Straße marschiert Pegida. Gruselig, aber vielleicht wirken ja die Medikamente schon.

Kaputter Humor auf den Leib geschrieben

Rachut kann sich natürlich auf ein ausgesuchtes Ensemble verlassen. Schauspielstars wie Ostendorf und Winter veredeln ohnehin jedes Stück. Hier sind sie aber in ihrem Element: als virtuose Schrägspieler, denen der ­kaputte Humor der Vorlage wie auf den Leib geschrieben ist – Winter als patent-beängstigende Horrorpflegerin mit ­Mireille-Matthieu-Frisur, Ostendorf als schicksalsergebener Todgeweihter, der nichts mehr zu verlieren und noch weniger zu gewinnen hat.

Bühnenbildner Raoul Doré hat die Sichtbeton-Architektur des Malersaals zu einem trostlosen Abbruchort erweitert, durch den geisterhafte Videos von menschenleeren Güterbahnhöfen flimmern, während sich die Realität langsam auflöst. Beziehungsweise die Wahrnehmung Gratzkes. „Hier sind die Wände aus Geistern, Blut und Strom“, orakelt die Pflegerin unheilschwanger. Dann stürzt Bettencourt aus der Wand und wird von Rachut mit Waffengewalt vertrieben, auf die Straße, zur Merkel-muss-weg-Demo. Aus einem Spind tritt Musiker Jonas Landerschier ans E-Piano, auf dass gesungen werde. Traurige, stille, fiese Chansons, „Zwiebelringe“ und „Analoge Sägewerke“.

Die Musik zu „Rainer Gratzke“ ist eines ganz sicher nicht: laut. Es ist Musik, die dem morbiden Thema angemessen ist, Musik, die in ihrer abgründigen Schönheit einem direkt ans Herz fasst. Es ist Musik, die überrascht. Was „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“ als Theaterstück zu einem ziemlich guten Punksong macht.

„Rainer Gratzke oder Das rote Auto“ Malersaal (U/S Hauptbahnhof), Kirchenallee 39, wieder am 17., 19., 26. und 27.12., 20 Uhr, Karten zu 22,- unter T. 24 87 13

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