Hamburg. Ziemlich viele aktuelle Bücher haben ziemlich viel mit Hamburg zu tun. Eine Auswahl der schönsten Ungewöhnlichkeiten.

Hundertfache Buchzusendungen Jahr für Jahr – die Abendblatt-Kulturredaktion ist ­bestandsmäßig beinah eine Bibliothek. Und wer soll das alles ­lesen? Im Zweifel jeder Hamburger. Umso mehr, als viele, viele der Bücher ziemlich viel mit Hamburg zu tun haben.

Ein paar von ihnen widmen wir diese Seite. Die literarischen Hamburgensien sind dabei weit gefächert. Man wäre nicht auf ­jeden Titel ohne Weiteres gekommen. Wer hat schon bislang ein Buch vermisst, das sich allein der U-Bahnlinie 3 widmet? Dabei ist es doch eigentlich so naheliegend, eine Art Stadtführer mit direkter Anbindung an den ÖPNV zu schreiben.

Ein anderer der vorgestellten Titel ist dagegen überaus anzüglich und das allerdings auf Bildern, die – so ist das bei Karikaturen – gar nicht erst in Pornografieverdacht geraten.

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© Lappan Verlag

Katastrophenkultur

Schmunzelwitze sind die, derer man sich manches Mal erwehren will und doch nicht kann. Das gilt ganz besonders für das unbedingt und konsequent anzügliche Büchlein „Für die Frisur ist Geschlechtsverkehr eine Katastrophe“ (Lappan Verlag, 9,99 Euro), für das sich der Karikaturist und Illustrator Til Mette und der Hamburger Dichter Andreas Greve zusammengetan haben. In Cartoons und Kurzgedichten spießt das Duo (Mette: Jahrgang 1956, Greve: Jahrgang 1953) todesmutig ein Thema auf, das doch eigentlich besonders für alte, weiße Männer seit #metoo vermintes Gelände ist. Die Abbildung oben stammt aus dem Band und greift neue Verzagtheiten und maskuline Sinnkrisen auf. Am besten wäre es, auch Frauen lachten über neu verteilte Rollen im Bett. Dann hätten Greve/Mette das Unwahrscheinliche geschafft, die überfällige Anklage mit einer Prise Humor gewürzt zu haben. Abseits von #metoo funktionieren die pointierten Stücke in diesem Buch wie zotige Schlafzimmer-Vignetten und Schnappschüsse aus dem ­Geschlechterkampf: Sie sind gut und ironisch, treiben das berühmte Spiel mit den Klischees, parodieren mehr noch den Mann als die Frau und sind nur selten altherrenwitzig („Ich hoffe das, was du gerade machst, steht im Einklang mit der hiesigen Verkehrsordnung“).

Beischlafkultur

Das „lyrische Ich“ (na, wer erinnert sich noch an den Deutschunterricht?) in Dagrun Hintzes knallig „Einvernehmlicher Sex“ (Minimal Trash Art, 12 Euro) betitelter Gedichtsammlung ist eine Kurtisanin der Nacht und des ­Unsteten, der immerwährenden Adoleszenz vielleicht sogar. Jedenfalls hat die Protagonistin dieser in sehr freiem Rhythmus geschriebenen Poeme Liebesgeschichten im Sinn. Dafür fährt sie in der Nacht auch schon mal auf die Reeperbahn. Weil der Typ Lust auf Currywurst hat, die dann aber gar nicht so gut schmeckt. Anders die Liebe selbst: ein Fest, jedes Mal, auch körperlich. Obwohl sich alles wiederholt im Verliebtsein. Immer noch besser als Monogamie, sagt einer in diesen Gedichten mal sinngemäß, und ein andermal heißt es: „Du hast beim Sex noch nie/an Gottesdienst gedacht/Jetzt tust du es/Weil du begreifst/zum ersten Mal verdammt/dass bis zum jüngsten Tag/du das/die immergleichen Gesten/wiederholen willst/die immergleichen Sätze/von Liebe und vom Ficken/wie eine Liturgie.“

Glanz und Elend von Ü-40, darum geht es Hintze, Jahrgang 1971: Eine Psychologin kommt zu Wort, sie sagt, wie sie die ­Fixierung auf Nicht-Gelebtes nervt, „die ­immer gleichen ­Affären“.

Knödelkultur

Nein! Eigentlich kein Ossiwort – „Broiler“ ist, tatsächlich, Fachsprache unter Gastronomen. Kommt ja auch vom englischen „to broil“, also grillen. Dennoch weiß der Sprachkundler, wo das Brathühnchen vorzugsweise zum Broiler wird: im Osten Deutschlands. Folglich verwundert es nicht, dass die gebürtige Ostberliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller ein „Broiler-Requiem“ verfasst hat. Es beginnt so: „Die Luft, geschwängert vom Duft entwichener Broilerseelen –/hilf Hühnergott, dass sie dich nicht verfehlen./Armes, entbeintes KIM-Getier –/Runtergegurgelt, ersoffen im Bier.“

Im vergnüglichen Gedichtband „Vom Knödel wollen wir singen“ (herausgegeben vom Hamburger Literaturwissenschaftler Christian Maintz, Kunstmann Verlag, 16 Euro) stehen die Broiler-Verse unter dem Rubrum „Hauptmahlzeiten und Herzhaftes“. Kulinarische Gedichte von unter anderem Ringelnatz, Busch, Robert Gernhardt, Heine, Benn, Heinz Erhardt, Ulla Hahn und Max Goldt decken aber die gesamte Menüfolge samt Getränkeverköstigung ab, und reimen tun sie sich auch – schön albern bei Bertolt Brecht: „Eins.Zwei.Drei.Vier./Vater braucht Bier./Vier. Drei.Zwei. Eins./ Mutter braucht keins.“

Heldenkultur

Es gibt zu viel Negativität in der Welt, zu viele Geister, die stets verneinen. So sehen das auch die Autoren Michele Avantario und Klaus Sieg, die vor einiger Zeit nichtsdestotrotz ein Sündenregister der Freien und Hansestadt verfassten: „Das schwarze Hamburg-Buch“. Da ging es um so unschöne Dinge wie Rassismus, Polizeiwillkür und Selbstjustiz – all das trug sich in der Welt und damit natürlich auch in Hamburg zu.

Aber es war doch nie alles schlecht! Deswegen hat das lokalkundige Autorenduo jetzt das viel sympathischere Nachfolge-, das Komplementärbuch verfasst: „Das weiße Hamburg-Buch“ (ConferencePoint Verlag, 19,80 Euro) also eine Art Glanzstunden- und Heldentaten-Register, das sich in fünf Jahrhunderten bedient.

Und dabei 45 Geschichten erzählt, die bis in unsere Gegenwart ragen. Da wäre etwa der Apotheker Paul Beiersdorf, der einst in der Neustadt das Heftpflaster erfand. Damit hat Hamburg ja doch irgendwie der Welt einen Dienst erwiesen. Auch die Erstausgabe des „Kapitals“ erschien hier. Und am Gänsemarkt entstand einst die erste Oper Deutschlands. Außerdem wird von außergewöhnlichen Menschen berichtet: von Frauenrechtlerin Emilie Wüstenfeld etwa und von Walter Frosch.

Hafenkultur

Die U 3 ist Hamburgs Ringlinie. 42 Minuten fährt man hier im Kreis und hält an Stationen wie dem Hauptbahnhof, den Landungsbrücken, St. Pauli, der Hoheluftbrücke und Barmbek. Meist fährt man gar nicht im Untergrund, sondern weit oben, und wer die Strecke täglich fährt, der hat sie, volle Bahnen hin oder her, doch auch irgendwo lieb gewonnen. Wahrscheinlich ­genau da am meisten, wo man täglich ein- und später, nach eines harten Tages Arbeit, wieder aussteigt. Holger Wetzels Buch „42 Minuten Hamburg. Geschichten aus der Hamburger Ringlinie“ (Vergangenheitsverlag, 19,99 Euro) ist eine Hommage an die U 3 und ihre Stationen. Dass jede Haltestelle architektonisch und geschichtlich beleuchtet wird, ist dabei eher eine Fleißarbeit und interessant für Hamburg-Historiker. In die Gegenwart fährt man hier dagegen mit der U 3 aufgrund der Quartierrundgänge, die sich an jede Station anschließen. Und Hamburg und seine Menschen öffnen sich dem Leser durch die Interviews, die der Autor an jeder Station führt – mit den für jene Orte jeweils ­notorischen Einwohnern oder sonstwie interessanten Hamburgern, also Hafenkapitänen, „Schwanenvätern“, Gastronomen, ­Modellwelt­betreibern, Bootsbauern, Club-Impresarios oder einem U-Bahnfahrer selbst.

Kiezkultur

Ich glaube, jeder, der in den Vororten der Stadt Hamburg aufgewachsen ist, kennt dieses Gefühl: wenn man eine der Ausfallstraßen entlang Richtung der Gebiete fährt, die dünner besiedelt sind und sich Meter für Meter ein Stück Heimat offenbart“ – ein Satz, der den Roman „Schulterblatt“ (Velum, 12,99 Euro) und das, was er sein möchte, ganz gut beschreibt. Der in Hamburg geborene Autor Kai Lüdders reist in diesem Buch auch ein Stück weit in seine persönliche Vergangenheit – zumindest in geografischer Hinsicht. Was Erinnerungen angeht, ist das Früher ein immer dünner besiedeltes Feld. In „Schulterblatt“ sind es vier Freunde, die zum letzten Mal Zeit miteinander verbringen, bevor einer von ihnen ins Gefängnis muss. Es ist das Hamburg der frühen Nullerjahre, das Lüdders herauf­beschwört. Wer Hamburg mag und grundsätzlich auf viel in satten Farben aufgetragenes Lokalkolorit steht, der wird in diesem literarisch umstandslosen, zackig geschriebenen Buch fündig. Leider hat man es aber mit purer Behauptungsprosa („Die Wellingsbütteler waren gerne unter sich“, „Die Kulisse am Elbstrand war stets magisch“) zu tun. Für die Kunst der Beschreibung bleibt allerdings auch wenig Zeit, denn es gibt ganz viel Drama am Schulterblatt. Auf die Freundschaft!