Es ist fast ein bisschen ironisch: Wer wie ich das Glück hat, sich täglich beruflich mit Büchern beschäftigen zu können, vermisst manchmal vor allem eines – das ziel- und absichtslose Lesen. Gerade in der Kindheit gab es für mich kaum Schöneres, als neue Bücherwelten zu entdecken, gern auch heimlich zu später Stunde im Bett – und, wenn die Spannung gar nicht auszuhalten war, sogar unter der Dusche. Dort lese ich heute nicht mehr, doch meine Liebe zu Kinderbüchern ist geblieben. Und mein früheres Ich wäre begeistert zu hören, dass ich meine Lieblingsschriftsteller nun sogar kennenlernen darf: Vor Kurzem war der große amerikanische Autor Jason Reynolds in Hamburg zu Gast, um sein Jugendbuch „Ghost“ vorzustellen, und ich war genauso begeistert von seiner Präsenz und Erzählkraft wie die anwesenden 160 Schüler. Seine Kindheit als schwarzer Junge in einer harten Nachbarschaft gleicht in Teilen dem Leben seines jungen Helden Castle Cranshaw, Ghost genannt. Während Reynolds Zuflucht im Rap fand, entdeckt Ghost im Buch sein Talent als Läufer. Mithilfe seines strengen, aber großherzigen Coaches – der ebenfalls einem echten Lehrer Reynolds’ nachempfunden ist –, seiner Familie und seiner Teamkollegen entwickelt sich Ghosts Leben in eine neue Richtung: Wo er bisher vor allem vor etwas weggelaufen ist: seinem brutalen Vater, einem von Drogen und Gewalt geprägten Viertel, geht es nun zum ersten Mal nach vorn. Jason Reynolds schildert das aus der Sicht eines Elfjährigen, so warmherzig und nachvollziehbar, dass ich auch als erwachsene Frau mitfiebere – und mir viele weitere derartige Bücher wünsche. Nur gut, dass bald unser Lesefest „Seiteneinsteiger“ beginnt.
Stefanie Ericke-Keidtel ist Mitorganisatorin des städtischen Lesefestes „Seiteneinsteiger“, das am 18.10. startet. Sie arbeitet außerdem für das Harbour Front Literaturfestival, den Hamburger mairisch Verlag und das Junge Literaturhaus im Berliner Literaturhaus.