Hamburg. Im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals trat Ian McEwan in der Elbphilharmonie auf und sprach über sein Werk.
Es war nur konsequent, dass der Moderator auch ganz zum Schluss das Tages-, Dauer- und Epochenthema Brexit nicht ansprach, „wir wollen die letzte Frage nicht für Politik verschwenden“. In den zwei Stunden vorher war es bis zu diesem Punkt ausschließlich um die Kunst gegangen. Das ist ganz sicher ein schönes Statement, weil doch sonst gefühlt jeder amerikanische Autor sich für Trump und jeder britische sich für die Separationsbemühungen Großbritanniens entschuldigen muss. Andererseits hätte ein verbales Brexit-Manöver durchaus eine gewisse Dynamik in den großen McEwan-Abend in der Elbphilharmonie bringen können.
Das Harbour Front Festival, Hamburgs Literaturfest, befindet sich auf der Zielgeraden, und wäre es eine Popveranstaltung, könnte man sagen: McEwan, der im Sommer 70 Jahre alt gewordene englische Bestsellerautor („Abbitte“, „Saturday“), ist sein Headliner. Einen imposanteren Auftritt wird es von den Voraussetzungen her in diesem Jahr für die Literatur nicht geben: Großes Konzerthaus, fast ausverkauft, also knapp 2000 Leute – für eine Lesung ist das gigantisch. Und dann wäre da ja auch noch das Personal des Abends, neben McEwan nämlich oben bereits erwähnter Moderator, der selber Schriftsteller ist und den Namen Daniel Kehlmann trägt.
Daniel Kehlmann stellte die Fragen
Kehlmann war als Fragesteller so ziemlich genau der richtige Mann, sollte es doch darum gehen, über das Gesamtwerk des Meisters aus England zu sprechen. Zwischendurch sollte Schauspieler Peter Lohmeyer, der kurzfristig den erkrankten Jan Josef Liefers ersetzte, einige Passagen aus McEwans Romanen lesen. Und das tat er dann auch, und zwar als mutmaßlich erster 360-Grad-Lesender der Welt, wenn nicht Hamburgs: Lohmeyer las aus „Ein Kind zur Zeit“, er las aus „Der Strand“, und dabei drehte er sich Zuschauer-freundlich in seinem Stuhl mehrere Male um sich herum.
Es war also doch jede Menge Dynamik im Spiel, vielleicht am Ende gar zu viel. Es gibt derzeit kein neues Buch von McEwan. Das bislang letzte, „Nussschale“, datiert von 2016. So sprach man halt kursorisch über alles. Über die Neurosen erstmaliger Väter und, was in seinem Fall spezifischer ist, über Hausgeburten: McEwan holte seinen Zweitgeborenen bei einem Wales-Urlaub der Familie selbst auf die Welt. Über die Freuden und Qualen des Filmgeschäfts – in diesem Jahr kommen „Am Strand“ und „Kindeswohl“ ins Kino –, wozu McEwan, der seine Bücher selbst in Filmskripts umwandelt, der allerdings erwartbare Satz einfiel, dass „es weitaus mehr Drehbücher als Filme“ gebe. Und es wurde, das war wirklich wunderbar, über die Literaturgeschichte und das Verfertigen von Romanen gesprochen.
Vollumfängliche Bewunderung
Es machte sich nicht nur bemerkbar, dass Kehlmann („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“), selbst ein sehr erfolgreicher und toller Autor, dem Kollegen vollumfängliche Bewunderung entgegenbringt; dies wurde dann auch zum Motor eines Gesprächs, dass in seiner notgedrungenen Sprunghaftigkeit den Reiz hatte, dass ein Schriftsteller dann besonders glänzt, wenn ein anderer ihm ein Denkmal baut. Bei Kehlmanns formelhaftem „Ian McEwan, das ist literarischer Modernismus plus Plot“ musste der solcherart Charakterisierte allerdings lachen: So einfach ist’s wahrscheinlich nicht, klingt aber doch recht gut.
Die Literatur könne hinter die ästhetischen Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts nicht zurück, genauso, wie man musikalisch nicht hinter Mozart zurückkönne, führte McEwan aus, der augenscheinlich gern über sein Werk und sein Schreiben spricht und das so tut, dass man seinen Worten gerne folgt. Die Mozart-Anspielung passte, na klar, in die Elbphilharmonie, und Gleiches gilt für die Feinheiten von deren Akustik: Am Anfang verstand man nicht gar zu viel, bis die Haustechnik die Mikros anscheinend neu aussteuerte.
Ian McEwan spendete seine Gage
Wer heute auf Charaktere in der Literatur verzichte, sagte McEwan später an einer Stelle, der entziehe der Literatur ihr Blut. Und diese Aussage ist so etwas wie das Fundament dieses so fundamental interessanten Schriftstellers, der in „Nussschale“ einen Fötus zum Erzähler macht. McEwans neuer Roman, so berichtete Kehlmann, werde noch verrückter werden. Er wird von einem Roboter handeln, mehr wollten Kehlmann und McEwan nicht verraten.
Seine Gage spendete Ian McEwan übrigens der Stiftung Mittagskinder, die sich für sozial benachteiligte Jugendliche einsetzt. Eine ehrenwerte Geste eines der besten Schriftsteller unserer Zeit.