Hamburg. Electro, Indiefolk und Kunst beim MS Dockville: 60.000 Besucher feiern in Wilhelmsburg. Und plötzlich passiert dieser besondere Moment.

Das feierliche Signal gibt also der Mann auf dem Plastikflamingo: Wie ein großer Kapitän reitet er über die Menge, rudert in der Mittagssonne durch Seifenblasen, die fröhlich dröhnende Bläsergewalt seiner Brasspop-Band Querbeat im Rücken. Draußen auf der Elbe schiebt sich langsam ein Schiff vorbei. „Das Leben ist ’ne Party!“, schallt es von der Bühne. Hier ist das noch nicht abgedroschen. Alles kreiselt, alles geht.

Willkommen in der Kleinstadt Dockville, das festivalgewordene Mini-Hamburg an der Süderelbe, bis zu 60.000 Einwohner an einem Wochenende im Jahr. Die Shuttlebusse vom Bahnhof Wilhelmsburg spülen weitere Menschen mit glitzernden Gesichtern auf den Deichweg in Richtung Gelände. Sie tragen Stoffturnbeutel, Plastik-Einhörner, Leuchtballons. Keiner hetzt. Die Köpfe sind schon randvoll mit Sonne und Erinnerungen, an Strände und Städte, anderer Festivals, erste Male des Fühlens und Machens.

Das MS Dockville ist nun so etwas wie die Bonusrunde und ein Nachhausekommen, an einen Ort, wo dieser Sommer bestimmt niemals vergeht. Die einst ziemlich verpeilten Festivalmacher präsentieren dem jungen, meist weiblichen Publikum im zwölften Anlauf einen sorgfältig verwunschenen Abenteuerspielplatz: Zwischen den zwölf Bühnen geht es über Holzgerüste an Hängematten und Riesenschaukeln, an bemalten Lokomotiven und pflanzenbehangenen Verschlägen vorbei – in einem Häuschen mit dem Namen „Yes we can can“ mischen sich Jubelrufe und sanft pochender Electro, einen Gang weiter schleichen Mittzwanziger mit Archäologenblick durch Kunstinstallationen. An Ständen auf den Lichtungen bieten gepiercte Frauen Kunsthandwerk feil und Flüchtlingshelfer stellen ihre Arbeit vor.

Bässe für die Tanzwütigen

Welcher Zuschauer vor welcher Bühne landet, ist manchmal Zufall – das Dockville umweht der Ruf, so gekonnt-hipsteresk seine Bands und DJs auszuwählen, dass selbst routinierte Musik-Bescheidwisser auf ihrem Rundgang noch Entdeckungen machen. Die Indie-Rock-Band Leoniden aus Kiel oder die schön-schauernden Cigarettes After Sex aus New York gehören noch zu den bekannteren Namen.

Inmitten des lässigen Gewusels dient das „Großschot“ als Anker und gemeinsames großes Wohnzimmer der Dockville-Bewohner. Am frühen Sonnabendabend stehen die britischen Blues-Folk-Rocker von Fink auf der Hauptbühne des Festivals – mit stahlbesaiteten Gitarren sägen sie sanft die Gefühlswelt der Zuhörer auf, um sie mit der Whisky-Stimme von Sänger Paul Greenall bei „Looking To Closely“ oder „Warm Shadow“ zu desinfizieren. Auch Alt-J, die Band, die später am Abend als Headliner auf der Bühne steht, ist eher für das groß inszenierte Schwelgen als das kollektive Ausrasten zuständig.

Bunt, kreativ, hip: Dockville-Besucher in einer Kunst- installation auf dem Festivalgelände
Bunt, kreativ, hip: Dockville-Besucher in einer Kunst- installation auf dem Festivalgelände © dpa | Christian Charisius

Wer behauptet, dass dem Dockville in diesem Jahr der klare Höhepunkt abgeht, liegt nicht falsch. Richtig ist aber auch: Hier stiehlt sich niemand gegenseitig das Rampenlicht, weder im Publikum noch auf den Bühnen. Und deutlich bekanntere Bands würden aus dem zusammengezimmerten Charme des Dockville vermutlich Kleinholz machen, ebenso wie aus den noch recht fairen Preisen.

Plötzlich ist Zeit für etwas Besonderes

Als die Sonne am Sonnabendabend langsam in die Elbe sinkt, ist etwas passiert mit dem Publikum; die Ü30er sind tief in die Tanzmeuten vor den DJ-Pulten eingesickert, die Mädchengruppen haben genügend Selfies gepostet, Pärchen haben sich umtänzelt und gefunden. Man trifft sich wieder, zum Elek­tro-Soul-Pop von Nick Murphy alias Chet Faker. Die Speicher und Industrieanlagen werden zur Projektionsfläche, zum Teil dieser Kleinstadt.

Es ist spürbar Zeit für einen besonderen Moment: Ihn liefert Faber, Schweizer Songwriter mit brutal harmonierender Band und einer Mischung aus Gitarrenpop, Balkanfolklore, großer Geste und Abtanzballstimmung. Eine Stunde kocht und tanzt die Meute, alles schreit nach einer Zugabe, doch die lässt der Veranstalter um 23.40 Uhr nicht mehr zu. Die Band klettert ins Publikum, zückt Akustikgitarren, spielt „Bella Ciao“.

Dann muss nur noch eine Entscheidung gefällt werden: Den Shuttlebus zurücknehmen und erst am Sonntag wiederkommen, wenn Olli Schulz und andere auf den Bühnen stehen. Oder einfach weiterfeiern.